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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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zurückzukommen beabsichtigte, nachdem ein desfallsiger Gesetzvorschlag im ersten
Theil der Session abgelehnt worden?

Nach Erledigung gewisser Gesetzvorlagen die Session schließen und zugleich
eine neue eröffnen, würde sich nicht empfehlen. Nach der durch die Geschäfts¬
ordnungen feststehenden Praxis beider Häuser bewirkt der Schluß einer Session
formell die Ungültigkeit nicht nur aller während der geschlossenen Session oft
mit großer Mühe und Arbeit geförderten Commissionsberichte, sondern auch
die Ungültigkeit der von einem Haus über einen Gesetzvorschlag gefaßten Be¬
schlüsse, wenn der Gesetzvorschlag noch nicht dem andern Haus vorgelegen oder
wenn die Beschlüsse überhaupt etwas anderes enthalten, als die einfache Zu¬
stimmung zu einer im anderen Haus angenommenen Vorlage. Gerade um
zu vermeiden, daß die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses über die Kreisord¬
nungsvorlage formell ihre Gültigkeit verlieren, ist die Session von 1871 noch
nicht geschlossen, sondern vertagt worden. Es müßte also in dem angegebenen
Falle die Einbringung eines neuen Steuergesetzvorschlages verschoben werden,
bis alle wichtigen Arbeiten des letzten Theiles der Session beendigt sind.
Schwerlich wird dies lange Zeit vor dem Beginn der neuen Reichstagssession
der Fall sein. Die Steuerreform müßte also bis zum Herbst 1873 ruhen;
ein viel zu langer Zeitraum für den allgemeinen Wunsch und für das wirk¬
liche Bedürfniß.

Es muß also auf andere Auswege gesonnen werden, deren sich mehr
darbieten. Man könnte die Bestimmung des Artikel 64 für die Session von
1871 außer Kraft setzen durch ein besonderes Gesetz, welches einer Verfassungs¬
änderung gleich zu achten und daher von jedem Haus binnen einundzwanzig
Tagen zwei Mal gutgeheißen werden müßte. Man könnte auch, da der
wiederum vorzulegende Steuerreformplan keinesfalls mit dem abgelehnten völlig
gleichen Inhalts sein wird, durch eine buchstäbliche Interpretation nach eng¬
lischer Art sich der Beobachtung des Artikel 64 überheben. Das Präeedenz
wäre indeß kein gutes und der zuvor genannte Ausweg scheint der empfehlens-
werthere. --

Die Aussichten der Landtagssession sind übrigens durch den Inhalt der
bevorstehenden Gesetzvorlagen sehr bedeutende. Die Einführung der Civil¬
standsregister scheint sich zu verwirklichen. Ein Gesetz gegen den Mißbrauch
der geistlichen Amtsgewalt wird verheißen. Der Beschluß des Herrenhauses
über die Kreisordnung, wie er auch ausfalle, wird für die Stellung dieses
Staatskörpers folgenreich sein, und die Steuerreform endlich bietet legis¬
latorischer Weisheit die dankbarste und verdienstlichste Gelegenheit. Dankbar,
weil das Richtige, glücklich gefunden, hier zur allseitigen Wohlthat wird; ver¬
dienstlich, weil das Richtige in der That zwar nicht unfindbar, aber auch
keineswegs leicht zu finden ist. Möge unsern Gesetzgebern die Weisheit ge-


zurückzukommen beabsichtigte, nachdem ein desfallsiger Gesetzvorschlag im ersten
Theil der Session abgelehnt worden?

Nach Erledigung gewisser Gesetzvorlagen die Session schließen und zugleich
eine neue eröffnen, würde sich nicht empfehlen. Nach der durch die Geschäfts¬
ordnungen feststehenden Praxis beider Häuser bewirkt der Schluß einer Session
formell die Ungültigkeit nicht nur aller während der geschlossenen Session oft
mit großer Mühe und Arbeit geförderten Commissionsberichte, sondern auch
die Ungültigkeit der von einem Haus über einen Gesetzvorschlag gefaßten Be¬
schlüsse, wenn der Gesetzvorschlag noch nicht dem andern Haus vorgelegen oder
wenn die Beschlüsse überhaupt etwas anderes enthalten, als die einfache Zu¬
stimmung zu einer im anderen Haus angenommenen Vorlage. Gerade um
zu vermeiden, daß die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses über die Kreisord¬
nungsvorlage formell ihre Gültigkeit verlieren, ist die Session von 1871 noch
nicht geschlossen, sondern vertagt worden. Es müßte also in dem angegebenen
Falle die Einbringung eines neuen Steuergesetzvorschlages verschoben werden,
bis alle wichtigen Arbeiten des letzten Theiles der Session beendigt sind.
Schwerlich wird dies lange Zeit vor dem Beginn der neuen Reichstagssession
der Fall sein. Die Steuerreform müßte also bis zum Herbst 1873 ruhen;
ein viel zu langer Zeitraum für den allgemeinen Wunsch und für das wirk¬
liche Bedürfniß.

Es muß also auf andere Auswege gesonnen werden, deren sich mehr
darbieten. Man könnte die Bestimmung des Artikel 64 für die Session von
1871 außer Kraft setzen durch ein besonderes Gesetz, welches einer Verfassungs¬
änderung gleich zu achten und daher von jedem Haus binnen einundzwanzig
Tagen zwei Mal gutgeheißen werden müßte. Man könnte auch, da der
wiederum vorzulegende Steuerreformplan keinesfalls mit dem abgelehnten völlig
gleichen Inhalts sein wird, durch eine buchstäbliche Interpretation nach eng¬
lischer Art sich der Beobachtung des Artikel 64 überheben. Das Präeedenz
wäre indeß kein gutes und der zuvor genannte Ausweg scheint der empfehlens-
werthere. —

Die Aussichten der Landtagssession sind übrigens durch den Inhalt der
bevorstehenden Gesetzvorlagen sehr bedeutende. Die Einführung der Civil¬
standsregister scheint sich zu verwirklichen. Ein Gesetz gegen den Mißbrauch
der geistlichen Amtsgewalt wird verheißen. Der Beschluß des Herrenhauses
über die Kreisordnung, wie er auch ausfalle, wird für die Stellung dieses
Staatskörpers folgenreich sein, und die Steuerreform endlich bietet legis¬
latorischer Weisheit die dankbarste und verdienstlichste Gelegenheit. Dankbar,
weil das Richtige, glücklich gefunden, hier zur allseitigen Wohlthat wird; ver¬
dienstlich, weil das Richtige in der That zwar nicht unfindbar, aber auch
keineswegs leicht zu finden ist. Möge unsern Gesetzgebern die Weisheit ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/83>, abgerufen am 30.06.2024.