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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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unserer Stellung uns in allzugroße Sicherheit wiegen zu lassen. Wahrlich
eine beispiellose Gefahr im Leben der deutschen Nation, nach deren Gleichen
wir an tausend Jahre in unserer Erinnerung suchen können.

Noch schreiten wir aufwärts, noch ermessen wir nicht das Ende und
die Ergebnisse der Führung, der wir jetzt folgen. Ebenso wenig die Be¬
wegung der Kräfte, die in einer ganz veränderten Constitution Europas sich
neue Mittel und neue Wege suchen werden. In keiner Weise können wir die
ungeheuere Veränderung, in der wir mit unserem Dichten und Trachten noch
begriffen sind, übersehen. Aber aus dem Contrast zwischen dem verzweiflungs¬
voll verworrenen Anfang mit dem Aufschwung, in dem wir jetzt begriffen
sind, können wir doch Einiges lernen, dessen Beherzigung schon jetzt höchst
wünschenswert!) und für den weiteren Fortschritt höchst dienlich ist.

Was hat denn jene Verwirrung der ersten sechsziger Jahre, nachdem der
Eintritt der Regentschaft sich doch so hoffnungsvoll angelassen, im letzten
Grunde hervorgebracht? Vor Allem doch, daß wir nach Anleitung einer Lieb¬
lingsvorstellung des deutschen Liberalismus, deren Vorzug nicht die Klarheit
ist, unternahmen, den Rechtsstaat zu formen, während wir noch gar nicht den
Staat hatten. Das Recht in allen Ehren; obwohl in der sittlichen Entwick¬
lung ihm nicht das alleinige Wort gebührt. Aber die Rechtsnorm der öffent¬
lichen Zustände kann überhaupt erst eintreten, wenn die regelmäßige Bahn
der dauernd wirksamen Kräfte im ausgebildeten Gemeinwesen gefunden ist.
Die deutschen Terntorialbildungen waren keine ausgebildeten Gemeinwesen,
die eine regelmäßige Harmonie im Innern und eine bleibende Bahn nach
Außen hätten innehalten können. Sie waren die Bruchstücke, die sich zum
Planeten wieder zusammenfügen mußten, um nun erst eine freie Stellung im
Weltsystem und ein inneres Gleichgewicht der eigenen Kräfte zu gewinnen.
Das Recht ist der Hüter einer naturgemäßen Ordnung, die aber nur in langen
Krisen erkämpft wird. Wenn sie vorhanden, mag sie als heilige Ordnung,
segensreiche Himmelstochter gefeiert und Alles an ihre Bewahrung gesetzt
werden. Aber man kann nicht verlangen, daß diese Himmelstochter das Chaos
beschwört, ehe es sich ins Gleiche gesetzt hat, sie, die nur "das Gleiche frei
und leicht und freudig bindet." Wir sollten uns das für unsern im Grunde
sicher gelegten, aber noch nicht vollendeten Reichsbau merken. Wir sollten
flüssige Formen mit weniger Ungeduld da ertragen, wo wir uns sagen müssen,
daß die Kräfte, welche unverrückbare Formen tragen könnten, in ihrer Stetig¬
keit noch nicht erprobt, vielleicht noch gar nicht hervorgetreten sind.

Und ein Zweites, Tiefgreifenderes sollte uns jene Erinnerung beherzigen
lehren. Der Haß, welcher den wirksamsten Staatsmann des neunzehnten Jahr¬
hunderts bei uns anfänglich empfing, rührte zum Theil allerdings davon her,
daß wir meinten, willkührlich in der schönen Arbeit am Rechtsstaat unter-


unserer Stellung uns in allzugroße Sicherheit wiegen zu lassen. Wahrlich
eine beispiellose Gefahr im Leben der deutschen Nation, nach deren Gleichen
wir an tausend Jahre in unserer Erinnerung suchen können.

Noch schreiten wir aufwärts, noch ermessen wir nicht das Ende und
die Ergebnisse der Führung, der wir jetzt folgen. Ebenso wenig die Be¬
wegung der Kräfte, die in einer ganz veränderten Constitution Europas sich
neue Mittel und neue Wege suchen werden. In keiner Weise können wir die
ungeheuere Veränderung, in der wir mit unserem Dichten und Trachten noch
begriffen sind, übersehen. Aber aus dem Contrast zwischen dem verzweiflungs¬
voll verworrenen Anfang mit dem Aufschwung, in dem wir jetzt begriffen
sind, können wir doch Einiges lernen, dessen Beherzigung schon jetzt höchst
wünschenswert!) und für den weiteren Fortschritt höchst dienlich ist.

Was hat denn jene Verwirrung der ersten sechsziger Jahre, nachdem der
Eintritt der Regentschaft sich doch so hoffnungsvoll angelassen, im letzten
Grunde hervorgebracht? Vor Allem doch, daß wir nach Anleitung einer Lieb¬
lingsvorstellung des deutschen Liberalismus, deren Vorzug nicht die Klarheit
ist, unternahmen, den Rechtsstaat zu formen, während wir noch gar nicht den
Staat hatten. Das Recht in allen Ehren; obwohl in der sittlichen Entwick¬
lung ihm nicht das alleinige Wort gebührt. Aber die Rechtsnorm der öffent¬
lichen Zustände kann überhaupt erst eintreten, wenn die regelmäßige Bahn
der dauernd wirksamen Kräfte im ausgebildeten Gemeinwesen gefunden ist.
Die deutschen Terntorialbildungen waren keine ausgebildeten Gemeinwesen,
die eine regelmäßige Harmonie im Innern und eine bleibende Bahn nach
Außen hätten innehalten können. Sie waren die Bruchstücke, die sich zum
Planeten wieder zusammenfügen mußten, um nun erst eine freie Stellung im
Weltsystem und ein inneres Gleichgewicht der eigenen Kräfte zu gewinnen.
Das Recht ist der Hüter einer naturgemäßen Ordnung, die aber nur in langen
Krisen erkämpft wird. Wenn sie vorhanden, mag sie als heilige Ordnung,
segensreiche Himmelstochter gefeiert und Alles an ihre Bewahrung gesetzt
werden. Aber man kann nicht verlangen, daß diese Himmelstochter das Chaos
beschwört, ehe es sich ins Gleiche gesetzt hat, sie, die nur „das Gleiche frei
und leicht und freudig bindet." Wir sollten uns das für unsern im Grunde
sicher gelegten, aber noch nicht vollendeten Reichsbau merken. Wir sollten
flüssige Formen mit weniger Ungeduld da ertragen, wo wir uns sagen müssen,
daß die Kräfte, welche unverrückbare Formen tragen könnten, in ihrer Stetig¬
keit noch nicht erprobt, vielleicht noch gar nicht hervorgetreten sind.

Und ein Zweites, Tiefgreifenderes sollte uns jene Erinnerung beherzigen
lehren. Der Haß, welcher den wirksamsten Staatsmann des neunzehnten Jahr¬
hunderts bei uns anfänglich empfing, rührte zum Theil allerdings davon her,
daß wir meinten, willkührlich in der schönen Arbeit am Rechtsstaat unter-


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[0044] unserer Stellung uns in allzugroße Sicherheit wiegen zu lassen. Wahrlich eine beispiellose Gefahr im Leben der deutschen Nation, nach deren Gleichen wir an tausend Jahre in unserer Erinnerung suchen können. Noch schreiten wir aufwärts, noch ermessen wir nicht das Ende und die Ergebnisse der Führung, der wir jetzt folgen. Ebenso wenig die Be¬ wegung der Kräfte, die in einer ganz veränderten Constitution Europas sich neue Mittel und neue Wege suchen werden. In keiner Weise können wir die ungeheuere Veränderung, in der wir mit unserem Dichten und Trachten noch begriffen sind, übersehen. Aber aus dem Contrast zwischen dem verzweiflungs¬ voll verworrenen Anfang mit dem Aufschwung, in dem wir jetzt begriffen sind, können wir doch Einiges lernen, dessen Beherzigung schon jetzt höchst wünschenswert!) und für den weiteren Fortschritt höchst dienlich ist. Was hat denn jene Verwirrung der ersten sechsziger Jahre, nachdem der Eintritt der Regentschaft sich doch so hoffnungsvoll angelassen, im letzten Grunde hervorgebracht? Vor Allem doch, daß wir nach Anleitung einer Lieb¬ lingsvorstellung des deutschen Liberalismus, deren Vorzug nicht die Klarheit ist, unternahmen, den Rechtsstaat zu formen, während wir noch gar nicht den Staat hatten. Das Recht in allen Ehren; obwohl in der sittlichen Entwick¬ lung ihm nicht das alleinige Wort gebührt. Aber die Rechtsnorm der öffent¬ lichen Zustände kann überhaupt erst eintreten, wenn die regelmäßige Bahn der dauernd wirksamen Kräfte im ausgebildeten Gemeinwesen gefunden ist. Die deutschen Terntorialbildungen waren keine ausgebildeten Gemeinwesen, die eine regelmäßige Harmonie im Innern und eine bleibende Bahn nach Außen hätten innehalten können. Sie waren die Bruchstücke, die sich zum Planeten wieder zusammenfügen mußten, um nun erst eine freie Stellung im Weltsystem und ein inneres Gleichgewicht der eigenen Kräfte zu gewinnen. Das Recht ist der Hüter einer naturgemäßen Ordnung, die aber nur in langen Krisen erkämpft wird. Wenn sie vorhanden, mag sie als heilige Ordnung, segensreiche Himmelstochter gefeiert und Alles an ihre Bewahrung gesetzt werden. Aber man kann nicht verlangen, daß diese Himmelstochter das Chaos beschwört, ehe es sich ins Gleiche gesetzt hat, sie, die nur „das Gleiche frei und leicht und freudig bindet." Wir sollten uns das für unsern im Grunde sicher gelegten, aber noch nicht vollendeten Reichsbau merken. Wir sollten flüssige Formen mit weniger Ungeduld da ertragen, wo wir uns sagen müssen, daß die Kräfte, welche unverrückbare Formen tragen könnten, in ihrer Stetig¬ keit noch nicht erprobt, vielleicht noch gar nicht hervorgetreten sind. Und ein Zweites, Tiefgreifenderes sollte uns jene Erinnerung beherzigen lehren. Der Haß, welcher den wirksamsten Staatsmann des neunzehnten Jahr¬ hunderts bei uns anfänglich empfing, rührte zum Theil allerdings davon her, daß wir meinten, willkührlich in der schönen Arbeit am Rechtsstaat unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/44>, abgerufen am 03.07.2024.