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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Schüchternheit, gleichviel ob es ihm selbst oder einem Freunde sehr zur Ehre
gereicht. Er rechnet eben auf Nachsicht, und er findet sie nicht bloß bei sei¬
nem nächsten Publicum, sondern auch in der Regel bei uns. Wir nehmen
ihn, wie er ist, und wenn er kein Tugendbild, kein grundgelehrter Hahn ist.
so ist er dafür amüsant. Man mag ihn, wenn man ihn ausgelesen hat. für
einen Schlingel, ja für ein bischen Lump halten, aber ausgelesen hat man
seinen Artikel oder sein Buch, und das passirt bekanntlich manchem Bessern
nicht immer.

Alles Gesagte gilt in besonders hohem Grade vom "Figaro". Er ist
die lebendigste und frischeste der pariser Zeitungen, vielleicht auch die in ihrer
Art am besten geschriebene, zu gleicher Zeit aber die frivolste, dreisteste und
unzuverlässigste, wo es sich um ernste Dinge handelt. Wir erwarten daher,
wenn der Gründer und leitende Geist des Blattes uns hier seine Denkwürdig¬
keiten bietet, gleichfalls jenen Eigenschaften zu begegnen, und in der That,
wenn irgend welche Dinge die Zeitung Villemessant's überbieten könnten an
Leichtfertigkeit, so würde es in diesen Aufzeichnungen geschehen sein. Aber
ergötzlich ist ihr Geplauder und so ergötzlich, so voll von sprudelnder Laune,
von witzigen Schilderungen und allerliebsten Anekdoten, daß wir aus dem
Lachen nicht herauskommen und Lust verspüren, unsere Leser an dieser heitern
Stimmung zu betheiligen, wie hiermit geschieht.

Das Buch zerfällt in zwei Theile, von denen uns der erste Erinnerungen
des Verfassers aus seinem eigenen Leben mittheilt, wogegen der zweite eine
Porträtgalerie ist, die mit Ausnahme des letzten, den Grafen Chambord dar¬
stellenden Bildes lauter Schriftsteller, zunächst Villemot, dann Solar, darauf
Roqueplan und endlich Alexander Dumas, umfaßt.

Seine Jugend verlebte Villemessant größentheils auf einem bei Blois ge¬
legenen Gute seiner Großmutter, einer Frau de Se. Loup, die er mit ebenso
viel Liebe als Geschick zeichnet. Sie war die Landedeldame der "guten alten
Zeit", schier unglaublich unwissend, aber sonst höchst achtungswerth und wür¬
dig. Sie verstand sich aufs Beten und Spinnen, sonst aber auf wenig mehr,
nicht einmal auf die Mode und ihren Fortschritt. Einmal hatte ihr Gemahl
ihr aus Paris einen feinen Hut mitgebracht. Sie setzte ihn nur ein einziges
Mal auf, dann wanderte er in Musselin geschlagen in einen Kleiderschrank,
wo er ungestört fünfzehn Jahre verblieb, nach deren Verlauf die treffliche alte
Frau damit einer jungen Dame ein Geschenk machte, natürlich in der Erwar¬
tung, diesebe werde sich schmücken.

Der Enkel that bei ihr nicht viel mehr, als daß er umherlief, den Vö¬
geln im Walde mit Sprenkeln, später den Mädchen mit HeiratlMnträgm nach-
stellte und seine Jacken und Hosen rasch abriß. Seine Schwester brachte ihm
die Elementarkenntnisse bei. Von höherem Unterricht war nicht die Rede;


Schüchternheit, gleichviel ob es ihm selbst oder einem Freunde sehr zur Ehre
gereicht. Er rechnet eben auf Nachsicht, und er findet sie nicht bloß bei sei¬
nem nächsten Publicum, sondern auch in der Regel bei uns. Wir nehmen
ihn, wie er ist, und wenn er kein Tugendbild, kein grundgelehrter Hahn ist.
so ist er dafür amüsant. Man mag ihn, wenn man ihn ausgelesen hat. für
einen Schlingel, ja für ein bischen Lump halten, aber ausgelesen hat man
seinen Artikel oder sein Buch, und das passirt bekanntlich manchem Bessern
nicht immer.

Alles Gesagte gilt in besonders hohem Grade vom „Figaro". Er ist
die lebendigste und frischeste der pariser Zeitungen, vielleicht auch die in ihrer
Art am besten geschriebene, zu gleicher Zeit aber die frivolste, dreisteste und
unzuverlässigste, wo es sich um ernste Dinge handelt. Wir erwarten daher,
wenn der Gründer und leitende Geist des Blattes uns hier seine Denkwürdig¬
keiten bietet, gleichfalls jenen Eigenschaften zu begegnen, und in der That,
wenn irgend welche Dinge die Zeitung Villemessant's überbieten könnten an
Leichtfertigkeit, so würde es in diesen Aufzeichnungen geschehen sein. Aber
ergötzlich ist ihr Geplauder und so ergötzlich, so voll von sprudelnder Laune,
von witzigen Schilderungen und allerliebsten Anekdoten, daß wir aus dem
Lachen nicht herauskommen und Lust verspüren, unsere Leser an dieser heitern
Stimmung zu betheiligen, wie hiermit geschieht.

Das Buch zerfällt in zwei Theile, von denen uns der erste Erinnerungen
des Verfassers aus seinem eigenen Leben mittheilt, wogegen der zweite eine
Porträtgalerie ist, die mit Ausnahme des letzten, den Grafen Chambord dar¬
stellenden Bildes lauter Schriftsteller, zunächst Villemot, dann Solar, darauf
Roqueplan und endlich Alexander Dumas, umfaßt.

Seine Jugend verlebte Villemessant größentheils auf einem bei Blois ge¬
legenen Gute seiner Großmutter, einer Frau de Se. Loup, die er mit ebenso
viel Liebe als Geschick zeichnet. Sie war die Landedeldame der „guten alten
Zeit", schier unglaublich unwissend, aber sonst höchst achtungswerth und wür¬
dig. Sie verstand sich aufs Beten und Spinnen, sonst aber auf wenig mehr,
nicht einmal auf die Mode und ihren Fortschritt. Einmal hatte ihr Gemahl
ihr aus Paris einen feinen Hut mitgebracht. Sie setzte ihn nur ein einziges
Mal auf, dann wanderte er in Musselin geschlagen in einen Kleiderschrank,
wo er ungestört fünfzehn Jahre verblieb, nach deren Verlauf die treffliche alte
Frau damit einer jungen Dame ein Geschenk machte, natürlich in der Erwar¬
tung, diesebe werde sich schmücken.

Der Enkel that bei ihr nicht viel mehr, als daß er umherlief, den Vö¬
geln im Walde mit Sprenkeln, später den Mädchen mit HeiratlMnträgm nach-
stellte und seine Jacken und Hosen rasch abriß. Seine Schwester brachte ihm
die Elementarkenntnisse bei. Von höherem Unterricht war nicht die Rede;


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[0426] Schüchternheit, gleichviel ob es ihm selbst oder einem Freunde sehr zur Ehre gereicht. Er rechnet eben auf Nachsicht, und er findet sie nicht bloß bei sei¬ nem nächsten Publicum, sondern auch in der Regel bei uns. Wir nehmen ihn, wie er ist, und wenn er kein Tugendbild, kein grundgelehrter Hahn ist. so ist er dafür amüsant. Man mag ihn, wenn man ihn ausgelesen hat. für einen Schlingel, ja für ein bischen Lump halten, aber ausgelesen hat man seinen Artikel oder sein Buch, und das passirt bekanntlich manchem Bessern nicht immer. Alles Gesagte gilt in besonders hohem Grade vom „Figaro". Er ist die lebendigste und frischeste der pariser Zeitungen, vielleicht auch die in ihrer Art am besten geschriebene, zu gleicher Zeit aber die frivolste, dreisteste und unzuverlässigste, wo es sich um ernste Dinge handelt. Wir erwarten daher, wenn der Gründer und leitende Geist des Blattes uns hier seine Denkwürdig¬ keiten bietet, gleichfalls jenen Eigenschaften zu begegnen, und in der That, wenn irgend welche Dinge die Zeitung Villemessant's überbieten könnten an Leichtfertigkeit, so würde es in diesen Aufzeichnungen geschehen sein. Aber ergötzlich ist ihr Geplauder und so ergötzlich, so voll von sprudelnder Laune, von witzigen Schilderungen und allerliebsten Anekdoten, daß wir aus dem Lachen nicht herauskommen und Lust verspüren, unsere Leser an dieser heitern Stimmung zu betheiligen, wie hiermit geschieht. Das Buch zerfällt in zwei Theile, von denen uns der erste Erinnerungen des Verfassers aus seinem eigenen Leben mittheilt, wogegen der zweite eine Porträtgalerie ist, die mit Ausnahme des letzten, den Grafen Chambord dar¬ stellenden Bildes lauter Schriftsteller, zunächst Villemot, dann Solar, darauf Roqueplan und endlich Alexander Dumas, umfaßt. Seine Jugend verlebte Villemessant größentheils auf einem bei Blois ge¬ legenen Gute seiner Großmutter, einer Frau de Se. Loup, die er mit ebenso viel Liebe als Geschick zeichnet. Sie war die Landedeldame der „guten alten Zeit", schier unglaublich unwissend, aber sonst höchst achtungswerth und wür¬ dig. Sie verstand sich aufs Beten und Spinnen, sonst aber auf wenig mehr, nicht einmal auf die Mode und ihren Fortschritt. Einmal hatte ihr Gemahl ihr aus Paris einen feinen Hut mitgebracht. Sie setzte ihn nur ein einziges Mal auf, dann wanderte er in Musselin geschlagen in einen Kleiderschrank, wo er ungestört fünfzehn Jahre verblieb, nach deren Verlauf die treffliche alte Frau damit einer jungen Dame ein Geschenk machte, natürlich in der Erwar¬ tung, diesebe werde sich schmücken. Der Enkel that bei ihr nicht viel mehr, als daß er umherlief, den Vö¬ geln im Walde mit Sprenkeln, später den Mädchen mit HeiratlMnträgm nach- stellte und seine Jacken und Hosen rasch abriß. Seine Schwester brachte ihm die Elementarkenntnisse bei. Von höherem Unterricht war nicht die Rede;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/426>, abgerufen am 22.07.2024.