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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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MüL Zahns' "Aoß und Aelter."")

Unsere Culturgeschichtschreibung, die jetzt mit Recht so bevorzugte liebens¬
würdige Schwester der ernsten Klio, wagt sich auf allerlei Gebiete, welche die¬
ser unzugänglich bleiben. Jndirect ist Herder der Begründer der Culturge¬
schichte als Wissenschaft gewesen. Sein Einfluß auf sie ist aber außerdem auch
ein ganz directer. Denn was er im allgemeinen als Geschichte bezeichnet,
würden wir jetzt wesentlich Culturgeschichte nennen. Das geistige Leben der
Völker, die verschiedenen Zielpunkte ihrer höchsten idealen Interessen in Poesie
und Religion, Wissen und Glauben sind, wie man weiß. Lieblingsthemata
der Herder'schen Geschichtsbetrachtung. Noch inniger aber verwandt oder der
eigentliche Schöpfer derjenigen Culturgeschichte, die wir als die moderne und
noch enger als die moderne deutsche Form davon bezeichnen können, ist er
dadurch geworden, daß ihm zuerst das Auge für das eigentliche Naturleben des
Geistes innerhalb der verschiedenen historischen Individualitäten, Völker wie
einzelner Menschen geöffnet war. Der Ausdruck "Volksseele", der gegenwärtig
zu den fruchtbarsten und inhaltreichsten Grundbegriffen aller wahrhaft wissen¬
schaftlichen Forschung auf geschichtlichem Gebiete gehört, ist von Herder bekannt¬
lich in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit noch nicht
ausgesprochen, er hat ihn erst zwanzig Jahre später geschaffen. Aber sein
Inhalt ist schon dort vollkommen erfaßt und allseitig ins Leben gesetzt. Das
eigentliche feste und bleibende in den wechselnden Typen der geistigen Produc-
tionen der Völker und Zeiten, was als das dauernde im Wechsel und zugleich
als jenes letzte, geheimnißvolle Band alles Lebens erscheint, das nur geahnt,
aber nicht analysirt, nur mit symbolischen Namen wie "Lebenskraft, Natur¬
anlage u. tgi." angedeutet, aber nicht erklärt werden kann, -- dieß alles ist
von Herder zuerst in die Betrachtung und Behandlung der Geschichte einge¬
führt worden. Und insofern ist er auch im aller specifischsten Sinne der Schöpfer
der Culturgeschichte namentlich derjenigen BeHandlungsweise derselben, die von
dem deutschen Geiste dieser Zeit mit besonderer Energie und mit großartigem
Erfolge gepflegt wird.



') Roß und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der Deutschen.
Eine kulturhist. Monogr. v. Max Jähns. 2 Bde. 1872. Leipzig, F. W. Grunow.
Grenzboten IV. 1872. S1
MüL Zahns' „Aoß und Aelter."»)

Unsere Culturgeschichtschreibung, die jetzt mit Recht so bevorzugte liebens¬
würdige Schwester der ernsten Klio, wagt sich auf allerlei Gebiete, welche die¬
ser unzugänglich bleiben. Jndirect ist Herder der Begründer der Culturge¬
schichte als Wissenschaft gewesen. Sein Einfluß auf sie ist aber außerdem auch
ein ganz directer. Denn was er im allgemeinen als Geschichte bezeichnet,
würden wir jetzt wesentlich Culturgeschichte nennen. Das geistige Leben der
Völker, die verschiedenen Zielpunkte ihrer höchsten idealen Interessen in Poesie
und Religion, Wissen und Glauben sind, wie man weiß. Lieblingsthemata
der Herder'schen Geschichtsbetrachtung. Noch inniger aber verwandt oder der
eigentliche Schöpfer derjenigen Culturgeschichte, die wir als die moderne und
noch enger als die moderne deutsche Form davon bezeichnen können, ist er
dadurch geworden, daß ihm zuerst das Auge für das eigentliche Naturleben des
Geistes innerhalb der verschiedenen historischen Individualitäten, Völker wie
einzelner Menschen geöffnet war. Der Ausdruck „Volksseele", der gegenwärtig
zu den fruchtbarsten und inhaltreichsten Grundbegriffen aller wahrhaft wissen¬
schaftlichen Forschung auf geschichtlichem Gebiete gehört, ist von Herder bekannt¬
lich in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit noch nicht
ausgesprochen, er hat ihn erst zwanzig Jahre später geschaffen. Aber sein
Inhalt ist schon dort vollkommen erfaßt und allseitig ins Leben gesetzt. Das
eigentliche feste und bleibende in den wechselnden Typen der geistigen Produc-
tionen der Völker und Zeiten, was als das dauernde im Wechsel und zugleich
als jenes letzte, geheimnißvolle Band alles Lebens erscheint, das nur geahnt,
aber nicht analysirt, nur mit symbolischen Namen wie „Lebenskraft, Natur¬
anlage u. tgi." angedeutet, aber nicht erklärt werden kann, — dieß alles ist
von Herder zuerst in die Betrachtung und Behandlung der Geschichte einge¬
führt worden. Und insofern ist er auch im aller specifischsten Sinne der Schöpfer
der Culturgeschichte namentlich derjenigen BeHandlungsweise derselben, die von
dem deutschen Geiste dieser Zeit mit besonderer Energie und mit großartigem
Erfolge gepflegt wird.



') Roß und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der Deutschen.
Eine kulturhist. Monogr. v. Max Jähns. 2 Bde. 1872. Leipzig, F. W. Grunow.
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[0409] MüL Zahns' „Aoß und Aelter."») Unsere Culturgeschichtschreibung, die jetzt mit Recht so bevorzugte liebens¬ würdige Schwester der ernsten Klio, wagt sich auf allerlei Gebiete, welche die¬ ser unzugänglich bleiben. Jndirect ist Herder der Begründer der Culturge¬ schichte als Wissenschaft gewesen. Sein Einfluß auf sie ist aber außerdem auch ein ganz directer. Denn was er im allgemeinen als Geschichte bezeichnet, würden wir jetzt wesentlich Culturgeschichte nennen. Das geistige Leben der Völker, die verschiedenen Zielpunkte ihrer höchsten idealen Interessen in Poesie und Religion, Wissen und Glauben sind, wie man weiß. Lieblingsthemata der Herder'schen Geschichtsbetrachtung. Noch inniger aber verwandt oder der eigentliche Schöpfer derjenigen Culturgeschichte, die wir als die moderne und noch enger als die moderne deutsche Form davon bezeichnen können, ist er dadurch geworden, daß ihm zuerst das Auge für das eigentliche Naturleben des Geistes innerhalb der verschiedenen historischen Individualitäten, Völker wie einzelner Menschen geöffnet war. Der Ausdruck „Volksseele", der gegenwärtig zu den fruchtbarsten und inhaltreichsten Grundbegriffen aller wahrhaft wissen¬ schaftlichen Forschung auf geschichtlichem Gebiete gehört, ist von Herder bekannt¬ lich in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit noch nicht ausgesprochen, er hat ihn erst zwanzig Jahre später geschaffen. Aber sein Inhalt ist schon dort vollkommen erfaßt und allseitig ins Leben gesetzt. Das eigentliche feste und bleibende in den wechselnden Typen der geistigen Produc- tionen der Völker und Zeiten, was als das dauernde im Wechsel und zugleich als jenes letzte, geheimnißvolle Band alles Lebens erscheint, das nur geahnt, aber nicht analysirt, nur mit symbolischen Namen wie „Lebenskraft, Natur¬ anlage u. tgi." angedeutet, aber nicht erklärt werden kann, — dieß alles ist von Herder zuerst in die Betrachtung und Behandlung der Geschichte einge¬ führt worden. Und insofern ist er auch im aller specifischsten Sinne der Schöpfer der Culturgeschichte namentlich derjenigen BeHandlungsweise derselben, die von dem deutschen Geiste dieser Zeit mit besonderer Energie und mit großartigem Erfolge gepflegt wird. ') Roß und Reiter in Leben und Sprache, Glauben und Geschichte der Deutschen. Eine kulturhist. Monogr. v. Max Jähns. 2 Bde. 1872. Leipzig, F. W. Grunow. Grenzboten IV. 1872. S1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/409>, abgerufen am 30.06.2024.