Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.giebt es, welche die schwere aber unendlich lohnende Aufgabe unternommen Rudolf Reichenau hat in seinem ersten Werke, ohne jede Prätension und In dieser schlichten Ausstattung erlebte Rudolf Reichenau's Erstling Einmal nämlich hatte sich zu dem Dichter des Büchleins "Aus unsern giebt es, welche die schwere aber unendlich lohnende Aufgabe unternommen Rudolf Reichenau hat in seinem ersten Werke, ohne jede Prätension und In dieser schlichten Ausstattung erlebte Rudolf Reichenau's Erstling Einmal nämlich hatte sich zu dem Dichter des Büchleins „Aus unsern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0402" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128856"/> <p xml:id="ID_1300" prev="#ID_1299"> giebt es, welche die schwere aber unendlich lohnende Aufgabe unternommen<lb/> und gelöst haben, des Kindes Denken, Fühlen und Handeln zu schildern?<lb/> Wie lange ist es her, seitdem hervorragende Gelehrte begonnen haben, die<lb/> geheimnißvollen Regeln und Gesetze, welche das Leben der menschlichen Seele<lb/> beherrschen, auch an dem Maßstabe des kindlichen Seelenlebens zu prüfen,<lb/> und die Entwickelung der menschlichen Sprache namentlich an der Sprach¬<lb/> entwickelung des Kindes zu studiren, nicht blos an dem psychologischen und<lb/> sprachlichen Organismus der Erwachsenen?</p><lb/> <p xml:id="ID_1301"> Rudolf Reichenau hat in seinem ersten Werke, ohne jede Prätension und<lb/> selbst ohne jeden Schein von Studium, eine so tiefe Beobachtung der Kinder¬<lb/> welt bewiesen, wie Wenige vor ihm. Gerade das machte ihn mit Recht zu<lb/> einem der bevorzugtesten Lieblinge des deutschen Volkes in allen Ständen und<lb/> Stämmen. Allerdings waren diese „Bilder aus dem Jugend- und Familien¬<lb/> leben" an der preußischen Nordostmark entstanden, wie unser Professor richtig<lb/> geahnt hatte, und die eigenthümliche Klangfarbe der Heimath herrschte überall<lb/> vor. Aber soweit die deutsche Zunge klingt, drang zum Herzen, was aus dem<lb/> Herzen kam. Ueberall bahnte sich dieses Buch den Weg zum Schooß der<lb/> deutschen Familie, da sein vornehmster eigenartigster Reiz in seiner liebe¬<lb/> vollen Beobachtung und Schilderung der kleinen Geheimnisse des deutschen<lb/> Kinder-und Familienlebens bestand. Und gerade Süddeutschland sprach durch seine<lb/> vornehmsten Organe in dem einmüthigen lauten Beifall, der das schlichte<lb/> Büchlein begrüßte, das gute Wort, daß deutsche Häuslichkeit und deutsches Eltern¬<lb/> glück überall dasselbe sei von dem schwäbischen Meer bis zur Nord- und Ost¬<lb/> see, und überall verwandte Herztöne erklingen lasse.</p><lb/> <p xml:id="ID_1302"> In dieser schlichten Ausstattung erlebte Rudolf Reichenau's Erstling<lb/> nahezu ein Dutzend starke Auflagen. Mit der Zeit waren jedoch zwei bedeut¬<lb/> same Neuerungen dazu getreten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1303" next="#ID_1304"> Einmal nämlich hatte sich zu dem Dichter des Büchleins „Aus unsern<lb/> vier Wänden" derjenige bildende Künstler als Illustrator gefunden,<lb/> der zu bildlichen Darstellungen aus dem Kinderleben wohl der in Deutschland<lb/> berufenste war, und der heute noch unbestritten als Meister auf diesem Ge¬<lb/> biete gilt: Oscar Pietsch. Die erste illustrirte Ausgabe erschien<lb/> 1865. Auch diese ist heute vergriffen und daher durch eine zweite illustrirte<lb/> Auflage, welche in diesen Tagen erschienen ist, ersetzt worden. Auch die illu¬<lb/> strirte Ausgabe ist längst zum Gemeingut unsres Volkes geworden, und es<lb/> wäre daher nutzlos, über die Vortrefflichkeit der Zeichnungen von Oscar<lb/> Pietsch mehr zu sagen, als daß Text und Bild sich vollkommen ebenbürtig<lb/> sind. Wenn die Priorität der Conception nicht zweifellos dem Schriftsteller,<lb/> dem Dichter gebührte, fo ließe sich wohl die Frage aufwerfen, welche der<lb/> Heiden Kunstdarstellungen der andern zum Vorbild gedient hat. So innig</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0402]
giebt es, welche die schwere aber unendlich lohnende Aufgabe unternommen
und gelöst haben, des Kindes Denken, Fühlen und Handeln zu schildern?
Wie lange ist es her, seitdem hervorragende Gelehrte begonnen haben, die
geheimnißvollen Regeln und Gesetze, welche das Leben der menschlichen Seele
beherrschen, auch an dem Maßstabe des kindlichen Seelenlebens zu prüfen,
und die Entwickelung der menschlichen Sprache namentlich an der Sprach¬
entwickelung des Kindes zu studiren, nicht blos an dem psychologischen und
sprachlichen Organismus der Erwachsenen?
Rudolf Reichenau hat in seinem ersten Werke, ohne jede Prätension und
selbst ohne jeden Schein von Studium, eine so tiefe Beobachtung der Kinder¬
welt bewiesen, wie Wenige vor ihm. Gerade das machte ihn mit Recht zu
einem der bevorzugtesten Lieblinge des deutschen Volkes in allen Ständen und
Stämmen. Allerdings waren diese „Bilder aus dem Jugend- und Familien¬
leben" an der preußischen Nordostmark entstanden, wie unser Professor richtig
geahnt hatte, und die eigenthümliche Klangfarbe der Heimath herrschte überall
vor. Aber soweit die deutsche Zunge klingt, drang zum Herzen, was aus dem
Herzen kam. Ueberall bahnte sich dieses Buch den Weg zum Schooß der
deutschen Familie, da sein vornehmster eigenartigster Reiz in seiner liebe¬
vollen Beobachtung und Schilderung der kleinen Geheimnisse des deutschen
Kinder-und Familienlebens bestand. Und gerade Süddeutschland sprach durch seine
vornehmsten Organe in dem einmüthigen lauten Beifall, der das schlichte
Büchlein begrüßte, das gute Wort, daß deutsche Häuslichkeit und deutsches Eltern¬
glück überall dasselbe sei von dem schwäbischen Meer bis zur Nord- und Ost¬
see, und überall verwandte Herztöne erklingen lasse.
In dieser schlichten Ausstattung erlebte Rudolf Reichenau's Erstling
nahezu ein Dutzend starke Auflagen. Mit der Zeit waren jedoch zwei bedeut¬
same Neuerungen dazu getreten.
Einmal nämlich hatte sich zu dem Dichter des Büchleins „Aus unsern
vier Wänden" derjenige bildende Künstler als Illustrator gefunden,
der zu bildlichen Darstellungen aus dem Kinderleben wohl der in Deutschland
berufenste war, und der heute noch unbestritten als Meister auf diesem Ge¬
biete gilt: Oscar Pietsch. Die erste illustrirte Ausgabe erschien
1865. Auch diese ist heute vergriffen und daher durch eine zweite illustrirte
Auflage, welche in diesen Tagen erschienen ist, ersetzt worden. Auch die illu¬
strirte Ausgabe ist längst zum Gemeingut unsres Volkes geworden, und es
wäre daher nutzlos, über die Vortrefflichkeit der Zeichnungen von Oscar
Pietsch mehr zu sagen, als daß Text und Bild sich vollkommen ebenbürtig
sind. Wenn die Priorität der Conception nicht zweifellos dem Schriftsteller,
dem Dichter gebührte, fo ließe sich wohl die Frage aufwerfen, welche der
Heiden Kunstdarstellungen der andern zum Vorbild gedient hat. So innig
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