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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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ist seit dem Beginn der Zeiten nicht dahin gelangt, die Welt, in der es lebt,
kennen zu lernen. Wir lernen nichts. Wir werden aus unsern Studien
fortgerissen, bevor wir das Alphabet inne haben. Wie die Welt jetzt be¬
schaffen ist, dünkt sie mir verfehlt, weil wir nicht lange genug leben." --
"Septimius", fährt hier der Dichter fort, "war kein Anfänger im Zweifeln;
im Gegentheil, es schien ihm, als wär' er selbst, in seiner Knabenzeit, nie
etwas anderes gewesen, als ein Zweifler und Frager, der Nichts geglaubt,
obgleich ein dünner Schleier von Ehrfurcht ihn von der Untersuchung gewisser
Fragen abgehalten hatte. Und jetzt kam der neue fremde Gedanke, die Welt
sei genügend für den Menschen, wenn er nur für sie genügend sei, wieder
und wieder über ihn, und zugleich ein gewisses Gefühl, dessen er sich schon
früher bewußt gewesen, daß wenigstens er nicht zu sterben brauche." --
"Warum sollte ich sterben?" fragt er sich stolz. "Ich kann nicht sterben, wenn
ich werth bin zu leben. Wenn ich nun in diesem Augenblick sagte: daß ich
nicht sterben will, oder doch erst nach Jahrhunderten und Jahrhunderten,
bis die Welt erschöpft ist? Laßt andere Menschen sterben, wenn sie nach¬
geben wollen; laßt den, der stark genug ist. leben." -- Der Vorwurf des
Romans ist hiermit angedeutet: Hawthorne selbst nennt ihn: "g, Konmuee ot'
ImmortÄlit?." Aus dem Bedürfniß entspringt der Willen ihm genugzuthun,
aus dem Willen das Versuchen, dem Bedürfniß genugthun zu können. Leider
entspricht die Entwickelung nicht der Anlage; so rein spiritualistisch diese ist,
so materiell ist jene. Die ganze Handhabung hat etwas Jongleurhaftes, wo¬
runter bisweilen sogar eine gewisse Skurrilität hervorguckt, das Schlimmste,
was ein Autor bei der Behandlung eines mystischen Gegenstandes sich er¬
lauben kann. Er corrigirt dann gleichsam seine eigene Schöpfung. Höchst
wahrscheinlich würde bei der Ueberarbeitung Hawthorne selbst diesen falschen
Ton auf seinem Gemälde wahrgenommen und verwischt haben.

George Macdonald ist, wie immer, in seinem "Wilfrid Cumbermeder" (vol.
(Z--7) ernsthafter bei der Behandlung des Mystischen. Den Muth zum Uner¬
klärlichen hat er nicht -- wer hat ihn denn heutzutage? Shakespeare würde
sich jetzt sicherlich nicht getrauen, Hamlet's Vater auftreten zu lassen. Aber
an das Geheimnißvolle in uns wenigstens glaubt Macdonald durch und durch.
Darum versteht er Dissonanzen aufzulösen. Wie feierlich friedlich z. B. schließt
die uns vorliegende Autobiographie. "Vater, hülle mich ein in Dich. Der
Sturm, so lange still, wacht auf; noch ein Mal schlägt er seine wilden
Flügel. Laß ihn' sich nicht emporschwingen in die Luft, wo mein Geist schwebt.
Ich wage nicht zu denken, aber mein Herz ist in Deiner Hand. Mich einem
Ausspruch von Dir zu beugen, brauch' ich das noch zulernen? Ist es nicht
genug, daß ich, sobald ich etwas als Deinen Willen erkannt, im Stande sein
werde, zu sagen: Dein Wille geschehe? Nein, es ist nicht genug; ich bedarf


Grenzboten 1782. IV. 49

ist seit dem Beginn der Zeiten nicht dahin gelangt, die Welt, in der es lebt,
kennen zu lernen. Wir lernen nichts. Wir werden aus unsern Studien
fortgerissen, bevor wir das Alphabet inne haben. Wie die Welt jetzt be¬
schaffen ist, dünkt sie mir verfehlt, weil wir nicht lange genug leben." —
„Septimius", fährt hier der Dichter fort, „war kein Anfänger im Zweifeln;
im Gegentheil, es schien ihm, als wär' er selbst, in seiner Knabenzeit, nie
etwas anderes gewesen, als ein Zweifler und Frager, der Nichts geglaubt,
obgleich ein dünner Schleier von Ehrfurcht ihn von der Untersuchung gewisser
Fragen abgehalten hatte. Und jetzt kam der neue fremde Gedanke, die Welt
sei genügend für den Menschen, wenn er nur für sie genügend sei, wieder
und wieder über ihn, und zugleich ein gewisses Gefühl, dessen er sich schon
früher bewußt gewesen, daß wenigstens er nicht zu sterben brauche." —
„Warum sollte ich sterben?" fragt er sich stolz. „Ich kann nicht sterben, wenn
ich werth bin zu leben. Wenn ich nun in diesem Augenblick sagte: daß ich
nicht sterben will, oder doch erst nach Jahrhunderten und Jahrhunderten,
bis die Welt erschöpft ist? Laßt andere Menschen sterben, wenn sie nach¬
geben wollen; laßt den, der stark genug ist. leben." — Der Vorwurf des
Romans ist hiermit angedeutet: Hawthorne selbst nennt ihn: „g, Konmuee ot'
ImmortÄlit?." Aus dem Bedürfniß entspringt der Willen ihm genugzuthun,
aus dem Willen das Versuchen, dem Bedürfniß genugthun zu können. Leider
entspricht die Entwickelung nicht der Anlage; so rein spiritualistisch diese ist,
so materiell ist jene. Die ganze Handhabung hat etwas Jongleurhaftes, wo¬
runter bisweilen sogar eine gewisse Skurrilität hervorguckt, das Schlimmste,
was ein Autor bei der Behandlung eines mystischen Gegenstandes sich er¬
lauben kann. Er corrigirt dann gleichsam seine eigene Schöpfung. Höchst
wahrscheinlich würde bei der Ueberarbeitung Hawthorne selbst diesen falschen
Ton auf seinem Gemälde wahrgenommen und verwischt haben.

George Macdonald ist, wie immer, in seinem „Wilfrid Cumbermeder" (vol.
(Z—7) ernsthafter bei der Behandlung des Mystischen. Den Muth zum Uner¬
klärlichen hat er nicht — wer hat ihn denn heutzutage? Shakespeare würde
sich jetzt sicherlich nicht getrauen, Hamlet's Vater auftreten zu lassen. Aber
an das Geheimnißvolle in uns wenigstens glaubt Macdonald durch und durch.
Darum versteht er Dissonanzen aufzulösen. Wie feierlich friedlich z. B. schließt
die uns vorliegende Autobiographie. „Vater, hülle mich ein in Dich. Der
Sturm, so lange still, wacht auf; noch ein Mal schlägt er seine wilden
Flügel. Laß ihn' sich nicht emporschwingen in die Luft, wo mein Geist schwebt.
Ich wage nicht zu denken, aber mein Herz ist in Deiner Hand. Mich einem
Ausspruch von Dir zu beugen, brauch' ich das noch zulernen? Ist es nicht
genug, daß ich, sobald ich etwas als Deinen Willen erkannt, im Stande sein
werde, zu sagen: Dein Wille geschehe? Nein, es ist nicht genug; ich bedarf


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[0393] ist seit dem Beginn der Zeiten nicht dahin gelangt, die Welt, in der es lebt, kennen zu lernen. Wir lernen nichts. Wir werden aus unsern Studien fortgerissen, bevor wir das Alphabet inne haben. Wie die Welt jetzt be¬ schaffen ist, dünkt sie mir verfehlt, weil wir nicht lange genug leben." — „Septimius", fährt hier der Dichter fort, „war kein Anfänger im Zweifeln; im Gegentheil, es schien ihm, als wär' er selbst, in seiner Knabenzeit, nie etwas anderes gewesen, als ein Zweifler und Frager, der Nichts geglaubt, obgleich ein dünner Schleier von Ehrfurcht ihn von der Untersuchung gewisser Fragen abgehalten hatte. Und jetzt kam der neue fremde Gedanke, die Welt sei genügend für den Menschen, wenn er nur für sie genügend sei, wieder und wieder über ihn, und zugleich ein gewisses Gefühl, dessen er sich schon früher bewußt gewesen, daß wenigstens er nicht zu sterben brauche." — „Warum sollte ich sterben?" fragt er sich stolz. „Ich kann nicht sterben, wenn ich werth bin zu leben. Wenn ich nun in diesem Augenblick sagte: daß ich nicht sterben will, oder doch erst nach Jahrhunderten und Jahrhunderten, bis die Welt erschöpft ist? Laßt andere Menschen sterben, wenn sie nach¬ geben wollen; laßt den, der stark genug ist. leben." — Der Vorwurf des Romans ist hiermit angedeutet: Hawthorne selbst nennt ihn: „g, Konmuee ot' ImmortÄlit?." Aus dem Bedürfniß entspringt der Willen ihm genugzuthun, aus dem Willen das Versuchen, dem Bedürfniß genugthun zu können. Leider entspricht die Entwickelung nicht der Anlage; so rein spiritualistisch diese ist, so materiell ist jene. Die ganze Handhabung hat etwas Jongleurhaftes, wo¬ runter bisweilen sogar eine gewisse Skurrilität hervorguckt, das Schlimmste, was ein Autor bei der Behandlung eines mystischen Gegenstandes sich er¬ lauben kann. Er corrigirt dann gleichsam seine eigene Schöpfung. Höchst wahrscheinlich würde bei der Ueberarbeitung Hawthorne selbst diesen falschen Ton auf seinem Gemälde wahrgenommen und verwischt haben. George Macdonald ist, wie immer, in seinem „Wilfrid Cumbermeder" (vol. (Z—7) ernsthafter bei der Behandlung des Mystischen. Den Muth zum Uner¬ klärlichen hat er nicht — wer hat ihn denn heutzutage? Shakespeare würde sich jetzt sicherlich nicht getrauen, Hamlet's Vater auftreten zu lassen. Aber an das Geheimnißvolle in uns wenigstens glaubt Macdonald durch und durch. Darum versteht er Dissonanzen aufzulösen. Wie feierlich friedlich z. B. schließt die uns vorliegende Autobiographie. „Vater, hülle mich ein in Dich. Der Sturm, so lange still, wacht auf; noch ein Mal schlägt er seine wilden Flügel. Laß ihn' sich nicht emporschwingen in die Luft, wo mein Geist schwebt. Ich wage nicht zu denken, aber mein Herz ist in Deiner Hand. Mich einem Ausspruch von Dir zu beugen, brauch' ich das noch zulernen? Ist es nicht genug, daß ich, sobald ich etwas als Deinen Willen erkannt, im Stande sein werde, zu sagen: Dein Wille geschehe? Nein, es ist nicht genug; ich bedarf Grenzboten 1782. IV. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/393>, abgerufen am 25.07.2024.