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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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bittere Täuschung verkehrt, Mary von Melmar, Norlaw's Cousine und erste
Liebe. Der Verheiratung mit ihm und dem Hause des Vaters enflohen, um
einen Franzosen zu heirathen, ist Mary von Melmar seit langen, langen
Jahren verschollen. Aber Norlaw hat sie nicht vergessen. Die Erinnerung
an ihre unvergleichliche Schönheit hält ihn unter einem Banne, welcher stär¬
ker ist. als Alles. Ihr Vater will das undankbare Kind enterben, Norlaw in
alle ihre Rechte einsetzen Norlaw würde eher Hungers sterben, als Mary's
Platz einnehmen. Gatte der bravsten, treuesten Frau, Vater von drei hoff¬
nungsvollen Knaben, ist er im Innern seines Herzens immer noch der
verlassene Verlobte Mary's von Melmar. Anstatt für seine Familie zu sorgen
und zu schaffen, schwärmt und seufzt er für die Verlorene. Ihr Vater stirbt; Nor¬
law hat nur noch einen Gedanken: Mary auffinden und in ihr Erbe zurückführen.
In der fieberhaften Rastlosigkeit dieses Suchens versäumt er noch rücksichtsloser
als bisher alle seine Pflichten; die Knaben werden nicht erzogen, Hab' und Gut
geht stückweise verloren. Als der Ritter Mary's von Melmar auf dem Todes¬
bette liegt, ist er der Armuth so nahe, daß er, würde ihm noch ein Morgen
gegönnt, als Bettler aufwachen müßte; dennoch sind seine letzten Worte: "sie
ist immer nur Mary für mich." Selbst die letzen Augenblicke gehören nicht
seiner treuen Gefährtin, und was sie als Gattin erlitten hat, das soll sie als
Mutter nochmals zu erleiden haben: ihr jüngster, liebster Sohn, des Vaters
Ebenbild, erklärt sich zum Erben von Norlaw's Thorheit. "Ich will thun
was mein Vater wünschte -- sollte sie im entferntesten Winkel der Erde ver¬
borgen sein, ich will sie heimbringen!" ruft er, und macht sein Wort wahr,
entdeckt Mary von Melmar und wird ihr Schwiegersohn. Doch seine Mutter
kann ihm und ihrer Nebenbuhlerin verzeihen: ihr ältester Sohn giebt ihr
endlich, was immer ihr Recht gewesen wäre, den ersten Platz im alten Hause
von Norlaw.

Schärfer, um nicht zu sagen, schreiender kann es keinen Gegensatz geben, als
den zwischen dieser "schottischen Mutter", und "Mis Lenore," der Heldin von
"Nova-hoc, Snektlieart!" do RKoäa.LrouMon" (vol. 8--9). "Kirloktlis?erioä!"
murmelt der Held, als er sie zum ersten Male gesehen hat. "?ron all Snell,
Vovä I^ora, activer us!" und die Leserin wird es wiederholen. Der Leser
nicht. "6o<,ä-do6, Lweetueart!" ist das seltene Ding: ein Frauenroman für
Männer. Nur sie können "Mis Lenore", dieses Gemisch von Eigensucht,
Eigenliebe und Eigensinn, dieses innerlich wie äußerlich völlig undisciplinir-
bare Geschöpf, welches ganze zwei Bände hindurch nicht den schwächsten
liebenswürdigen Zug, nicht die leiseste gute Regung offenbart, ihrer körper¬
lichen Schönheit und ihres wildweiblichen Naturells wegen absolviren, obgleich
auch sie diese Alles verzeihende Nachsicht mehr gegen kleine Persönchen aus¬
zuüben pflegen, als gegen eine so große Person, wie Mis Lenore. Dieses
Vergreifen in den Körperverhältnissen der Heldin ist der einzige psychologische


bittere Täuschung verkehrt, Mary von Melmar, Norlaw's Cousine und erste
Liebe. Der Verheiratung mit ihm und dem Hause des Vaters enflohen, um
einen Franzosen zu heirathen, ist Mary von Melmar seit langen, langen
Jahren verschollen. Aber Norlaw hat sie nicht vergessen. Die Erinnerung
an ihre unvergleichliche Schönheit hält ihn unter einem Banne, welcher stär¬
ker ist. als Alles. Ihr Vater will das undankbare Kind enterben, Norlaw in
alle ihre Rechte einsetzen Norlaw würde eher Hungers sterben, als Mary's
Platz einnehmen. Gatte der bravsten, treuesten Frau, Vater von drei hoff¬
nungsvollen Knaben, ist er im Innern seines Herzens immer noch der
verlassene Verlobte Mary's von Melmar. Anstatt für seine Familie zu sorgen
und zu schaffen, schwärmt und seufzt er für die Verlorene. Ihr Vater stirbt; Nor¬
law hat nur noch einen Gedanken: Mary auffinden und in ihr Erbe zurückführen.
In der fieberhaften Rastlosigkeit dieses Suchens versäumt er noch rücksichtsloser
als bisher alle seine Pflichten; die Knaben werden nicht erzogen, Hab' und Gut
geht stückweise verloren. Als der Ritter Mary's von Melmar auf dem Todes¬
bette liegt, ist er der Armuth so nahe, daß er, würde ihm noch ein Morgen
gegönnt, als Bettler aufwachen müßte; dennoch sind seine letzten Worte: „sie
ist immer nur Mary für mich." Selbst die letzen Augenblicke gehören nicht
seiner treuen Gefährtin, und was sie als Gattin erlitten hat, das soll sie als
Mutter nochmals zu erleiden haben: ihr jüngster, liebster Sohn, des Vaters
Ebenbild, erklärt sich zum Erben von Norlaw's Thorheit. „Ich will thun
was mein Vater wünschte — sollte sie im entferntesten Winkel der Erde ver¬
borgen sein, ich will sie heimbringen!" ruft er, und macht sein Wort wahr,
entdeckt Mary von Melmar und wird ihr Schwiegersohn. Doch seine Mutter
kann ihm und ihrer Nebenbuhlerin verzeihen: ihr ältester Sohn giebt ihr
endlich, was immer ihr Recht gewesen wäre, den ersten Platz im alten Hause
von Norlaw.

Schärfer, um nicht zu sagen, schreiender kann es keinen Gegensatz geben, als
den zwischen dieser „schottischen Mutter", und „Mis Lenore," der Heldin von
„Nova-hoc, Snektlieart!" do RKoäa.LrouMon" (vol. 8—9). „Kirloktlis?erioä!"
murmelt der Held, als er sie zum ersten Male gesehen hat. „?ron all Snell,
Vovä I^ora, activer us!" und die Leserin wird es wiederholen. Der Leser
nicht. „6o<,ä-do6, Lweetueart!" ist das seltene Ding: ein Frauenroman für
Männer. Nur sie können „Mis Lenore", dieses Gemisch von Eigensucht,
Eigenliebe und Eigensinn, dieses innerlich wie äußerlich völlig undisciplinir-
bare Geschöpf, welches ganze zwei Bände hindurch nicht den schwächsten
liebenswürdigen Zug, nicht die leiseste gute Regung offenbart, ihrer körper¬
lichen Schönheit und ihres wildweiblichen Naturells wegen absolviren, obgleich
auch sie diese Alles verzeihende Nachsicht mehr gegen kleine Persönchen aus¬
zuüben pflegen, als gegen eine so große Person, wie Mis Lenore. Dieses
Vergreifen in den Körperverhältnissen der Heldin ist der einzige psychologische


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[0391] bittere Täuschung verkehrt, Mary von Melmar, Norlaw's Cousine und erste Liebe. Der Verheiratung mit ihm und dem Hause des Vaters enflohen, um einen Franzosen zu heirathen, ist Mary von Melmar seit langen, langen Jahren verschollen. Aber Norlaw hat sie nicht vergessen. Die Erinnerung an ihre unvergleichliche Schönheit hält ihn unter einem Banne, welcher stär¬ ker ist. als Alles. Ihr Vater will das undankbare Kind enterben, Norlaw in alle ihre Rechte einsetzen Norlaw würde eher Hungers sterben, als Mary's Platz einnehmen. Gatte der bravsten, treuesten Frau, Vater von drei hoff¬ nungsvollen Knaben, ist er im Innern seines Herzens immer noch der verlassene Verlobte Mary's von Melmar. Anstatt für seine Familie zu sorgen und zu schaffen, schwärmt und seufzt er für die Verlorene. Ihr Vater stirbt; Nor¬ law hat nur noch einen Gedanken: Mary auffinden und in ihr Erbe zurückführen. In der fieberhaften Rastlosigkeit dieses Suchens versäumt er noch rücksichtsloser als bisher alle seine Pflichten; die Knaben werden nicht erzogen, Hab' und Gut geht stückweise verloren. Als der Ritter Mary's von Melmar auf dem Todes¬ bette liegt, ist er der Armuth so nahe, daß er, würde ihm noch ein Morgen gegönnt, als Bettler aufwachen müßte; dennoch sind seine letzten Worte: „sie ist immer nur Mary für mich." Selbst die letzen Augenblicke gehören nicht seiner treuen Gefährtin, und was sie als Gattin erlitten hat, das soll sie als Mutter nochmals zu erleiden haben: ihr jüngster, liebster Sohn, des Vaters Ebenbild, erklärt sich zum Erben von Norlaw's Thorheit. „Ich will thun was mein Vater wünschte — sollte sie im entferntesten Winkel der Erde ver¬ borgen sein, ich will sie heimbringen!" ruft er, und macht sein Wort wahr, entdeckt Mary von Melmar und wird ihr Schwiegersohn. Doch seine Mutter kann ihm und ihrer Nebenbuhlerin verzeihen: ihr ältester Sohn giebt ihr endlich, was immer ihr Recht gewesen wäre, den ersten Platz im alten Hause von Norlaw. Schärfer, um nicht zu sagen, schreiender kann es keinen Gegensatz geben, als den zwischen dieser „schottischen Mutter", und „Mis Lenore," der Heldin von „Nova-hoc, Snektlieart!" do RKoäa.LrouMon" (vol. 8—9). „Kirloktlis?erioä!" murmelt der Held, als er sie zum ersten Male gesehen hat. „?ron all Snell, Vovä I^ora, activer us!" und die Leserin wird es wiederholen. Der Leser nicht. „6o<,ä-do6, Lweetueart!" ist das seltene Ding: ein Frauenroman für Männer. Nur sie können „Mis Lenore", dieses Gemisch von Eigensucht, Eigenliebe und Eigensinn, dieses innerlich wie äußerlich völlig undisciplinir- bare Geschöpf, welches ganze zwei Bände hindurch nicht den schwächsten liebenswürdigen Zug, nicht die leiseste gute Regung offenbart, ihrer körper¬ lichen Schönheit und ihres wildweiblichen Naturells wegen absolviren, obgleich auch sie diese Alles verzeihende Nachsicht mehr gegen kleine Persönchen aus¬ zuüben pflegen, als gegen eine so große Person, wie Mis Lenore. Dieses Vergreifen in den Körperverhältnissen der Heldin ist der einzige psychologische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/391>, abgerufen am 04.07.2024.