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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Herrenhauses kann nur mittelst einer Verfassungsänderung sich vollziehen.
In dieser Hinsicht leben wir noch in voller Spannung.

Ist eine Reform des Herrenhauses überhaupt beschlossene Sache? Wie
weit wird sie sich erstrecken? Wird sie das Abgeordnetenhaus unberührt lassen?
Dies sind die Fragen der Situation.

Ich habe schon früher ausgeführt, warum es fast undenkbar ist, daß die
Regierung den Pairschub blos zur Durchdringung der Kreisordnung und
nicht zu einer Reform der Staatskörperschaften benutzen sollte. Die parla-
mentarischen Organe des preußischen Staates sind in den ungünstigsten Zeit¬
verhältnissen falsch gebildet worden. Im Grunde ruhen beide auf Octroyirun-
gen, zu denen in einer Reactionsperiode das Königthum gedrängt wurde,
während es noch im Kampfe stand und keineswegs den Prozeß der Verfas¬
sungsbildung ruhig beherrschte. Diese Oetroyirungen waren Waffen, Streit¬
mittel eines noch unentschiedenen Kampfes, zubereitet halb nach dem Drang
der Noth, halb nach der Willkür subjectiver Laune. Die wahren Verfassungs¬
bildungen aber sind die Niederschläge und Wahrzeichen der wiedergekehrten
Harmonie. Daß den heutigen gesunden Bedingungen des deutschen Staats¬
lebens die preußischen Verfassungsorgane nicht entsprechen, konnte längst schon
keinem Weitblickenden zweifelhaft sein. Nun ist zur Beseitigung des Mangels
der günstigste, natürlichste Anlaß vorhanden. Das Herrenhaus hat eine uner¬
läßliche Gesehvorlage vereitelt, ein Pairschub ist unvermeidlich geworden. Die
Umbildung der so aller innern Harmonie nothwendig beraubten Körperschaft
erscheint ebenso dringend, als die Durchdringung eines einzelnen, durch den
früheren einseitigen Character des Herrenhauses vereitelten Gesetzes. Die
Neubildung des Herrenhauses ist aber eine Verfasfungsreform und was liegt
näher, als bei der normalen Constituirung der ersten Kammer an die ent¬
sprechende Normalisirung der zweiten zu denken. Denn auch unser Abgeord¬
netenhaus ist anormal gebildet. Man denke nur an das Dreiklassen-Wahl¬
system, von dem der Reichskanzler gesagt hat, ein elenderes Wahlgesetz kenne
er nicht: ein Ausspruch, gegen den Niemand Einspruch erhoben hat, als der
Urheber des Gesetzes. Aber unser Abgeordnetenhaus ist auch viel zu zahl¬
reich. Man hat bei der Vergrößerung des preußischen Staates im Jahre
1866 ganz mechanisch 80 neue Abgeordnete den früheren 332 hinzugefügt,
indem man das Verhältniß der Einwohnerzahl, die auf einen Abgeordneten
kommen, so belassen hat, wie es war, als der preußische Staat 8 Provinzen
umfaßte. Nur die unumgängliche Eile konnte eine so äußerliche Methode der
Erweiterung eines Verfassungskörpers ihrer Zeit entschuldigen. Es ist hohe
Zeit, diese Methode, nachdem sie in zwei Legislaturperioden zur Anwendung
gekommen, durch eine besser bedachte zu ersetzen.

Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß die Regierung mit ihren


Herrenhauses kann nur mittelst einer Verfassungsänderung sich vollziehen.
In dieser Hinsicht leben wir noch in voller Spannung.

Ist eine Reform des Herrenhauses überhaupt beschlossene Sache? Wie
weit wird sie sich erstrecken? Wird sie das Abgeordnetenhaus unberührt lassen?
Dies sind die Fragen der Situation.

Ich habe schon früher ausgeführt, warum es fast undenkbar ist, daß die
Regierung den Pairschub blos zur Durchdringung der Kreisordnung und
nicht zu einer Reform der Staatskörperschaften benutzen sollte. Die parla-
mentarischen Organe des preußischen Staates sind in den ungünstigsten Zeit¬
verhältnissen falsch gebildet worden. Im Grunde ruhen beide auf Octroyirun-
gen, zu denen in einer Reactionsperiode das Königthum gedrängt wurde,
während es noch im Kampfe stand und keineswegs den Prozeß der Verfas¬
sungsbildung ruhig beherrschte. Diese Oetroyirungen waren Waffen, Streit¬
mittel eines noch unentschiedenen Kampfes, zubereitet halb nach dem Drang
der Noth, halb nach der Willkür subjectiver Laune. Die wahren Verfassungs¬
bildungen aber sind die Niederschläge und Wahrzeichen der wiedergekehrten
Harmonie. Daß den heutigen gesunden Bedingungen des deutschen Staats¬
lebens die preußischen Verfassungsorgane nicht entsprechen, konnte längst schon
keinem Weitblickenden zweifelhaft sein. Nun ist zur Beseitigung des Mangels
der günstigste, natürlichste Anlaß vorhanden. Das Herrenhaus hat eine uner¬
läßliche Gesehvorlage vereitelt, ein Pairschub ist unvermeidlich geworden. Die
Umbildung der so aller innern Harmonie nothwendig beraubten Körperschaft
erscheint ebenso dringend, als die Durchdringung eines einzelnen, durch den
früheren einseitigen Character des Herrenhauses vereitelten Gesetzes. Die
Neubildung des Herrenhauses ist aber eine Verfasfungsreform und was liegt
näher, als bei der normalen Constituirung der ersten Kammer an die ent¬
sprechende Normalisirung der zweiten zu denken. Denn auch unser Abgeord¬
netenhaus ist anormal gebildet. Man denke nur an das Dreiklassen-Wahl¬
system, von dem der Reichskanzler gesagt hat, ein elenderes Wahlgesetz kenne
er nicht: ein Ausspruch, gegen den Niemand Einspruch erhoben hat, als der
Urheber des Gesetzes. Aber unser Abgeordnetenhaus ist auch viel zu zahl¬
reich. Man hat bei der Vergrößerung des preußischen Staates im Jahre
1866 ganz mechanisch 80 neue Abgeordnete den früheren 332 hinzugefügt,
indem man das Verhältniß der Einwohnerzahl, die auf einen Abgeordneten
kommen, so belassen hat, wie es war, als der preußische Staat 8 Provinzen
umfaßte. Nur die unumgängliche Eile konnte eine so äußerliche Methode der
Erweiterung eines Verfassungskörpers ihrer Zeit entschuldigen. Es ist hohe
Zeit, diese Methode, nachdem sie in zwei Legislaturperioden zur Anwendung
gekommen, durch eine besser bedachte zu ersetzen.

Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß die Regierung mit ihren


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[0360] Herrenhauses kann nur mittelst einer Verfassungsänderung sich vollziehen. In dieser Hinsicht leben wir noch in voller Spannung. Ist eine Reform des Herrenhauses überhaupt beschlossene Sache? Wie weit wird sie sich erstrecken? Wird sie das Abgeordnetenhaus unberührt lassen? Dies sind die Fragen der Situation. Ich habe schon früher ausgeführt, warum es fast undenkbar ist, daß die Regierung den Pairschub blos zur Durchdringung der Kreisordnung und nicht zu einer Reform der Staatskörperschaften benutzen sollte. Die parla- mentarischen Organe des preußischen Staates sind in den ungünstigsten Zeit¬ verhältnissen falsch gebildet worden. Im Grunde ruhen beide auf Octroyirun- gen, zu denen in einer Reactionsperiode das Königthum gedrängt wurde, während es noch im Kampfe stand und keineswegs den Prozeß der Verfas¬ sungsbildung ruhig beherrschte. Diese Oetroyirungen waren Waffen, Streit¬ mittel eines noch unentschiedenen Kampfes, zubereitet halb nach dem Drang der Noth, halb nach der Willkür subjectiver Laune. Die wahren Verfassungs¬ bildungen aber sind die Niederschläge und Wahrzeichen der wiedergekehrten Harmonie. Daß den heutigen gesunden Bedingungen des deutschen Staats¬ lebens die preußischen Verfassungsorgane nicht entsprechen, konnte längst schon keinem Weitblickenden zweifelhaft sein. Nun ist zur Beseitigung des Mangels der günstigste, natürlichste Anlaß vorhanden. Das Herrenhaus hat eine uner¬ läßliche Gesehvorlage vereitelt, ein Pairschub ist unvermeidlich geworden. Die Umbildung der so aller innern Harmonie nothwendig beraubten Körperschaft erscheint ebenso dringend, als die Durchdringung eines einzelnen, durch den früheren einseitigen Character des Herrenhauses vereitelten Gesetzes. Die Neubildung des Herrenhauses ist aber eine Verfasfungsreform und was liegt näher, als bei der normalen Constituirung der ersten Kammer an die ent¬ sprechende Normalisirung der zweiten zu denken. Denn auch unser Abgeord¬ netenhaus ist anormal gebildet. Man denke nur an das Dreiklassen-Wahl¬ system, von dem der Reichskanzler gesagt hat, ein elenderes Wahlgesetz kenne er nicht: ein Ausspruch, gegen den Niemand Einspruch erhoben hat, als der Urheber des Gesetzes. Aber unser Abgeordnetenhaus ist auch viel zu zahl¬ reich. Man hat bei der Vergrößerung des preußischen Staates im Jahre 1866 ganz mechanisch 80 neue Abgeordnete den früheren 332 hinzugefügt, indem man das Verhältniß der Einwohnerzahl, die auf einen Abgeordneten kommen, so belassen hat, wie es war, als der preußische Staat 8 Provinzen umfaßte. Nur die unumgängliche Eile konnte eine so äußerliche Methode der Erweiterung eines Verfassungskörpers ihrer Zeit entschuldigen. Es ist hohe Zeit, diese Methode, nachdem sie in zwei Legislaturperioden zur Anwendung gekommen, durch eine besser bedachte zu ersetzen. Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß die Regierung mit ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/360>, abgerufen am 02.07.2024.