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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Oder will man die Leute dazu zwingen? Und wenn, ist die Regierung, wenn
sie Jemandem ein Geschäft octroyirt oder die fernere Fortführung eines Ge¬
schäftes aufzwingt, nicht auch verpflichtet, ihn mit dem dazu erforderlichen
Geld und Verstand zu versehen? Und woher denn das Alles nehmen, ohne
zu stehlen? -- Das Programm vom 20. Januar 1870 ist sonach entweder
weiter nichts, als der fromme Wunsch, es möge überhaupt noch viel schöner
und besser werden auf Erden, -- ein Wunsch, den Jedermann theilt. Oder
es bedeutet die unbedingteste Dictatur der jeweiligen Regierung, die absolute
Unterdrückung der wirthschaftlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Freiheit,
für die vormals Jacoby so muthig und glänzend gestritten. Da wir aber
an eine solche Apostase nicht glauben können und wollen, so bleibt uns nur
der erste Theil der Alternative übrig. Zwar können wir uns von der Ueber¬
zeugung nicht trennen, daß es Jacoby im Januar 1870 eben so gut und
ehrlich gemeint hat, wie im Januar 1841. Aber das können wir nicht leug¬
nen, daß in dem Inhalt seines Programms eine höchst bedauerliche rück¬
schreitende Metamorphose eingetreten ist. Das Recht ist durch die Willkühr,
die Ueberzeugung durch die Laune, der ernste Beruf durch leichtes Dilettanten-
Werk, die unerbittliche Logik durch die prätentiöse Phrase ("Menschen-Antlitz"
u. tgi.), die durchsichtige Klarheit durch verschwommenes Dunkel verdrängt
worden.

Sollen wir das Alles Jacoby persönlich zum Vorwurfe anrechnen? Soll
uns diese traurige Gegenwart blind machen gegen eine glorreiche Vergangen¬
heit? --

Nein, gewiß nicht! Das wäre die höchste Ungerechtigkeit. Achten wir
die Person, aber lassen wir uns durch diese Achtung nicht blind machen für
die Fehler der Sache. Suchen wir uns diese Wendung genetisch-pragmatisch
zu erklären. Jacoby, welcher stets der sogenannten "konstitutionellen Ent¬
wickelung" der süddeutschen Staaten eine besondere Vorliebe bewahrt hat, ist
nichts als der norddeutsche Ableger des vormärzlichen süddeutschen Liberalis¬
mus, welcher letztere bekanntlich auf ein französisches Reiß gepfropft und da¬
bei so allumfassend naiv war, daß der badische Abgeordnete v. Itzstein. seiner
Zeit der beste Kopf unter den süddeutschen Liberalen, mit dem communistischen
Schneider Weitling ein zartes Einverständniß unterhielt, wobei natürlich nicht
der Schneider, sondern der Baron der "Dupe" war. Jener Liberalismus war
stark in der Negation und schwach in der Affirmation, groß im Fordern und
klein im Bewahren. Sein Idealismus schlug um in eine Abstraction, welche
alles Concrete verschmähte. Seine Bekämpfung schlechter Regierungen führte,
auf dem Wege der Verwechslung der jeweiligen Staatsregierung mit der
ewigen Staats-Jdee, schließlich zu einer Verneinung des Staates als solchen;
ein dialektischer Prozeß, der viel Entschuldbares und Begreifliches hat in


Oder will man die Leute dazu zwingen? Und wenn, ist die Regierung, wenn
sie Jemandem ein Geschäft octroyirt oder die fernere Fortführung eines Ge¬
schäftes aufzwingt, nicht auch verpflichtet, ihn mit dem dazu erforderlichen
Geld und Verstand zu versehen? Und woher denn das Alles nehmen, ohne
zu stehlen? — Das Programm vom 20. Januar 1870 ist sonach entweder
weiter nichts, als der fromme Wunsch, es möge überhaupt noch viel schöner
und besser werden auf Erden, — ein Wunsch, den Jedermann theilt. Oder
es bedeutet die unbedingteste Dictatur der jeweiligen Regierung, die absolute
Unterdrückung der wirthschaftlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Freiheit,
für die vormals Jacoby so muthig und glänzend gestritten. Da wir aber
an eine solche Apostase nicht glauben können und wollen, so bleibt uns nur
der erste Theil der Alternative übrig. Zwar können wir uns von der Ueber¬
zeugung nicht trennen, daß es Jacoby im Januar 1870 eben so gut und
ehrlich gemeint hat, wie im Januar 1841. Aber das können wir nicht leug¬
nen, daß in dem Inhalt seines Programms eine höchst bedauerliche rück¬
schreitende Metamorphose eingetreten ist. Das Recht ist durch die Willkühr,
die Ueberzeugung durch die Laune, der ernste Beruf durch leichtes Dilettanten-
Werk, die unerbittliche Logik durch die prätentiöse Phrase („Menschen-Antlitz"
u. tgi.), die durchsichtige Klarheit durch verschwommenes Dunkel verdrängt
worden.

Sollen wir das Alles Jacoby persönlich zum Vorwurfe anrechnen? Soll
uns diese traurige Gegenwart blind machen gegen eine glorreiche Vergangen¬
heit? —

Nein, gewiß nicht! Das wäre die höchste Ungerechtigkeit. Achten wir
die Person, aber lassen wir uns durch diese Achtung nicht blind machen für
die Fehler der Sache. Suchen wir uns diese Wendung genetisch-pragmatisch
zu erklären. Jacoby, welcher stets der sogenannten „konstitutionellen Ent¬
wickelung" der süddeutschen Staaten eine besondere Vorliebe bewahrt hat, ist
nichts als der norddeutsche Ableger des vormärzlichen süddeutschen Liberalis¬
mus, welcher letztere bekanntlich auf ein französisches Reiß gepfropft und da¬
bei so allumfassend naiv war, daß der badische Abgeordnete v. Itzstein. seiner
Zeit der beste Kopf unter den süddeutschen Liberalen, mit dem communistischen
Schneider Weitling ein zartes Einverständniß unterhielt, wobei natürlich nicht
der Schneider, sondern der Baron der „Dupe" war. Jener Liberalismus war
stark in der Negation und schwach in der Affirmation, groß im Fordern und
klein im Bewahren. Sein Idealismus schlug um in eine Abstraction, welche
alles Concrete verschmähte. Seine Bekämpfung schlechter Regierungen führte,
auf dem Wege der Verwechslung der jeweiligen Staatsregierung mit der
ewigen Staats-Jdee, schließlich zu einer Verneinung des Staates als solchen;
ein dialektischer Prozeß, der viel Entschuldbares und Begreifliches hat in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/300>, abgerufen am 02.07.2024.