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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Auf diesem Gebiete liegt also nicht Jacoby's Bedeutung. Sie liegt aus¬
schließlich auf politischem Gebiete. Jacoby ist der Urtypus des abstracten
vormärzlichen Liberalismus, dessen Religion die Opposition war, und zwar
die Opposition aus Princip, die Opposition um der Opposition willen; jenes
Liberalismus, welcher stets auf der äußersten Linken sitzen will, ohne Rücksicht
darauf, was denn den Gegenstand bildet, nach welchem man bemißt, was
Rechts und was Links ist; jenes Liberalismus, welcher aus Consequenz in-
consequent wird, weil er nur auf sich und seinen Platz sieht und darüber ver¬
gißt, daß die Welt während dessen nicht stillsteht.

Wenn Jemand seine "Gesammelten Schriften" herausgiebt, so pflegt er
seine Laufbahn als geschlossen zu betrachten. Auf Jacoby als Politiker
(nicht auf Jacoby als Philosophen) dürfte dies Anwendung finden. Wenig¬
stens wird ein Berliner Wahlkreis ihm ein Mandat nicht wieder anvertrauen.
Der Berliner Bürger ist fortschrittlich gesinnt, allein Jacoby hat'sich ja mit
der Fortschrittspartei überworfen und sich mit Guido Weiß und einigen we¬
nigen Getreuen als äußerste Linke constituirt. Endlich hat er sich Bebel und
Liebknecht in die Arme geworfen. Letzteres wird ihm am Wenigsten verziehen.
Der Berliner Bürger ist augenblicklich wirthschaftlich im Zustande reactionärer
Beklemmung. Weil Berlin sich aus einer Residenz-, Garnison- und Beamten-
Stadt in eine Handels- und Fabrikstadt, aus einer märkischen in eine preußische,
und aus einer preußischen in eine deutsche Stadt verwandelt hat, weil es
riesig wächst, weil dieses schnelle Wachsthum Gliederschmerzen veranlaßt, weil
die alte Weißbier-Gemüthlichkeit aufhört, sich hin und wieder Gefindel zeigt,
die Concurrenz zunimmt, und der Kampf um das Dasein täglich mehr Kraft¬
aufwand fordert, hat der Berliner Bürger einen gründlichen Haß gegen die
wirthschaftliche Freiheit gewonnen. Wie man im Mittelalter, als der "schwarze
Tod" in der Mitte des Is. Jahrhunderts wüthete, behauptete, die Juden
hätten die Brunnen vergiftet und sie schaarenweise todtschlug; wie man später,
so oft eine Rinderpest oder ein sonstiges "Viehheerden" sich zutrug, behauptete,
das Vieh sei verhext und die alten Weiber dutzendweise als Hexen verbrannte,
so haßt jetzt der Berliner die "Manchestermänner" und die "Socialdemokraten"
gleichmäßig. Er setzt seine Hoffnung auf die "Kathedersocialisten", weil er
erwartet, diese Gelehrten, welche mit der Regierung ja so intim seien, würden
ein Mittel erfinden, welches die Regierung "energisch" in Vollzug setzen
werde, um "dem ganzen Schwindel ein Ende zu machen". Zwar wollen
die Einsichtigen behaupten, diese Auffassung sei zu thöricht, als daß sie sich
lange behaupten könne. Allein die Judenverfolgung und der Hexenbrand
waren noch viel sinnloser und grausamer; und wie lange haben diese Geistes¬
krankheiten nicht gedauert?

Betrachten wir also Jacoby's politische Laufbahn als abgeschlossen, so


Auf diesem Gebiete liegt also nicht Jacoby's Bedeutung. Sie liegt aus¬
schließlich auf politischem Gebiete. Jacoby ist der Urtypus des abstracten
vormärzlichen Liberalismus, dessen Religion die Opposition war, und zwar
die Opposition aus Princip, die Opposition um der Opposition willen; jenes
Liberalismus, welcher stets auf der äußersten Linken sitzen will, ohne Rücksicht
darauf, was denn den Gegenstand bildet, nach welchem man bemißt, was
Rechts und was Links ist; jenes Liberalismus, welcher aus Consequenz in-
consequent wird, weil er nur auf sich und seinen Platz sieht und darüber ver¬
gißt, daß die Welt während dessen nicht stillsteht.

Wenn Jemand seine „Gesammelten Schriften" herausgiebt, so pflegt er
seine Laufbahn als geschlossen zu betrachten. Auf Jacoby als Politiker
(nicht auf Jacoby als Philosophen) dürfte dies Anwendung finden. Wenig¬
stens wird ein Berliner Wahlkreis ihm ein Mandat nicht wieder anvertrauen.
Der Berliner Bürger ist fortschrittlich gesinnt, allein Jacoby hat'sich ja mit
der Fortschrittspartei überworfen und sich mit Guido Weiß und einigen we¬
nigen Getreuen als äußerste Linke constituirt. Endlich hat er sich Bebel und
Liebknecht in die Arme geworfen. Letzteres wird ihm am Wenigsten verziehen.
Der Berliner Bürger ist augenblicklich wirthschaftlich im Zustande reactionärer
Beklemmung. Weil Berlin sich aus einer Residenz-, Garnison- und Beamten-
Stadt in eine Handels- und Fabrikstadt, aus einer märkischen in eine preußische,
und aus einer preußischen in eine deutsche Stadt verwandelt hat, weil es
riesig wächst, weil dieses schnelle Wachsthum Gliederschmerzen veranlaßt, weil
die alte Weißbier-Gemüthlichkeit aufhört, sich hin und wieder Gefindel zeigt,
die Concurrenz zunimmt, und der Kampf um das Dasein täglich mehr Kraft¬
aufwand fordert, hat der Berliner Bürger einen gründlichen Haß gegen die
wirthschaftliche Freiheit gewonnen. Wie man im Mittelalter, als der „schwarze
Tod" in der Mitte des Is. Jahrhunderts wüthete, behauptete, die Juden
hätten die Brunnen vergiftet und sie schaarenweise todtschlug; wie man später,
so oft eine Rinderpest oder ein sonstiges „Viehheerden" sich zutrug, behauptete,
das Vieh sei verhext und die alten Weiber dutzendweise als Hexen verbrannte,
so haßt jetzt der Berliner die „Manchestermänner" und die „Socialdemokraten"
gleichmäßig. Er setzt seine Hoffnung auf die „Kathedersocialisten", weil er
erwartet, diese Gelehrten, welche mit der Regierung ja so intim seien, würden
ein Mittel erfinden, welches die Regierung „energisch" in Vollzug setzen
werde, um „dem ganzen Schwindel ein Ende zu machen". Zwar wollen
die Einsichtigen behaupten, diese Auffassung sei zu thöricht, als daß sie sich
lange behaupten könne. Allein die Judenverfolgung und der Hexenbrand
waren noch viel sinnloser und grausamer; und wie lange haben diese Geistes¬
krankheiten nicht gedauert?

Betrachten wir also Jacoby's politische Laufbahn als abgeschlossen, so


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[0293] Auf diesem Gebiete liegt also nicht Jacoby's Bedeutung. Sie liegt aus¬ schließlich auf politischem Gebiete. Jacoby ist der Urtypus des abstracten vormärzlichen Liberalismus, dessen Religion die Opposition war, und zwar die Opposition aus Princip, die Opposition um der Opposition willen; jenes Liberalismus, welcher stets auf der äußersten Linken sitzen will, ohne Rücksicht darauf, was denn den Gegenstand bildet, nach welchem man bemißt, was Rechts und was Links ist; jenes Liberalismus, welcher aus Consequenz in- consequent wird, weil er nur auf sich und seinen Platz sieht und darüber ver¬ gißt, daß die Welt während dessen nicht stillsteht. Wenn Jemand seine „Gesammelten Schriften" herausgiebt, so pflegt er seine Laufbahn als geschlossen zu betrachten. Auf Jacoby als Politiker (nicht auf Jacoby als Philosophen) dürfte dies Anwendung finden. Wenig¬ stens wird ein Berliner Wahlkreis ihm ein Mandat nicht wieder anvertrauen. Der Berliner Bürger ist fortschrittlich gesinnt, allein Jacoby hat'sich ja mit der Fortschrittspartei überworfen und sich mit Guido Weiß und einigen we¬ nigen Getreuen als äußerste Linke constituirt. Endlich hat er sich Bebel und Liebknecht in die Arme geworfen. Letzteres wird ihm am Wenigsten verziehen. Der Berliner Bürger ist augenblicklich wirthschaftlich im Zustande reactionärer Beklemmung. Weil Berlin sich aus einer Residenz-, Garnison- und Beamten- Stadt in eine Handels- und Fabrikstadt, aus einer märkischen in eine preußische, und aus einer preußischen in eine deutsche Stadt verwandelt hat, weil es riesig wächst, weil dieses schnelle Wachsthum Gliederschmerzen veranlaßt, weil die alte Weißbier-Gemüthlichkeit aufhört, sich hin und wieder Gefindel zeigt, die Concurrenz zunimmt, und der Kampf um das Dasein täglich mehr Kraft¬ aufwand fordert, hat der Berliner Bürger einen gründlichen Haß gegen die wirthschaftliche Freiheit gewonnen. Wie man im Mittelalter, als der „schwarze Tod" in der Mitte des Is. Jahrhunderts wüthete, behauptete, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und sie schaarenweise todtschlug; wie man später, so oft eine Rinderpest oder ein sonstiges „Viehheerden" sich zutrug, behauptete, das Vieh sei verhext und die alten Weiber dutzendweise als Hexen verbrannte, so haßt jetzt der Berliner die „Manchestermänner" und die „Socialdemokraten" gleichmäßig. Er setzt seine Hoffnung auf die „Kathedersocialisten", weil er erwartet, diese Gelehrten, welche mit der Regierung ja so intim seien, würden ein Mittel erfinden, welches die Regierung „energisch" in Vollzug setzen werde, um „dem ganzen Schwindel ein Ende zu machen". Zwar wollen die Einsichtigen behaupten, diese Auffassung sei zu thöricht, als daß sie sich lange behaupten könne. Allein die Judenverfolgung und der Hexenbrand waren noch viel sinnloser und grausamer; und wie lange haben diese Geistes¬ krankheiten nicht gedauert? Betrachten wir also Jacoby's politische Laufbahn als abgeschlossen, so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/293>, abgerufen am 22.07.2024.