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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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sichtspunkt der Staatsweisheit in den wechselnden concreten Beziehungen der
Gesetzvorlagen zu treffen wissen. Man kann unmöglich bei jeder solchen Ge¬
setzvorlage eine Pairschicht act Iroe über die vorhandenen lagern. Daraus
entstände das unbeholfenste, widerspruchvollste Conglomerat. Nein äußerlich
würde eine Ueberfüllung des Herrenhauses entstehen. Diese haben wir aller¬
dings noch nicht, aber das widerspruchsvolle Conglomerat haben wir. Darum
muß der jetzt unvermeidlich gewordene Pairschub benutzt werden, nicht um
blos die Kreisordnung durchzubringen, sondern um die preußische Verfassung
zu revidiren.

Man kann unmöglich annehmen, daß der Staatsregierung dieser Ge¬
sichtspunkt entgehen sollte. Aber Niemand ist vorläufig zu sagen im Stande,
auf welche Art von Revision die Regierung ausgehen wird. Um so mehr ist
es vielleicht noch Zeit, daß die öffentliche Meinung ihren Ausspruch abgebe,
der freilich nur in Gestalt der ersten vielfarbigen Mannigfaltigkeit bis zur
Wiedereröffnung des Landtags zu Tage treten kann. Denn bis zum 12. No¬
vember wird die öffentliche Meinung über diese tiefgreifende Frage, deren
Lösung mit überraschender Schnelligkeit sich aufgedrängt hat, zu keiner Eini¬
gung zu gelangen vermögen.

Wir unsererseits vermögen uns nicht der Annahme zu entschlagen, daß
an dem Tage, wo Ernst gemacht wird mit der Reform des Herrenhauses,
gleichzeitig Ernst gemacht werden muß mit der Reform des Abgeordneten¬
hauses. Man übersieht zu häufig, daß nicht nur unser Herrenhaus, sondern
ebenso unser Abgeordnetenhaus auf dem mangelhaftesten und zufälligsten
Vildungsmodus beruhen, daß nicht blos die Leistungen des einen, sondern
auch die des anderen Staatskörpers seit der Wirksamkeit der preußischen Ver¬
fassung zurückgeblieben sind hinter dem, was der Staat von seinen höchsten
Körperschaften fordern mußte und fordern durfte. Nicht blos in der Ge¬
schichte des Herrenhauses gibt es unerfreuliche Blätter. Der Kampf des Ab¬
geordnetenhauses gegen die Heeresreform, aus welchem sich der Verfassungs¬
conflict entwickelte, ist auch ein solches Blatt. Darum sagen wir: ein anderes
Herrenhaus, ein anderes Abgeordnetenhaus, oder noch lieber: kein Herren¬
haus -- kein Abgeordnetenhaus, sondern an Stelle beider als berathender
Kilt mitbeschließender Factor der preußischen Gesetzgebung neben dem König
der deutsche Reichstag.

Wir gehen auf keine dieser Möglichkeiten näher ein, so lange die Ab¬
setzten der Staatsregierung nicht hervorgetreten sind. Erst die Verkündigung
dieser Absichten kann den Kern bilden, um welchen die öffentliche Meinung
^ Widerspruch oder Zustimmung sich krystallisirt. Die allgemeine Noth¬
wendigkeit aber, daß der jetzt von der Staatsregierung als unvermeidlich an¬
rannte Pairschub nicht blos zur Durchdringung eines einzelnen Gesetzes,


sichtspunkt der Staatsweisheit in den wechselnden concreten Beziehungen der
Gesetzvorlagen zu treffen wissen. Man kann unmöglich bei jeder solchen Ge¬
setzvorlage eine Pairschicht act Iroe über die vorhandenen lagern. Daraus
entstände das unbeholfenste, widerspruchvollste Conglomerat. Nein äußerlich
würde eine Ueberfüllung des Herrenhauses entstehen. Diese haben wir aller¬
dings noch nicht, aber das widerspruchsvolle Conglomerat haben wir. Darum
muß der jetzt unvermeidlich gewordene Pairschub benutzt werden, nicht um
blos die Kreisordnung durchzubringen, sondern um die preußische Verfassung
zu revidiren.

Man kann unmöglich annehmen, daß der Staatsregierung dieser Ge¬
sichtspunkt entgehen sollte. Aber Niemand ist vorläufig zu sagen im Stande,
auf welche Art von Revision die Regierung ausgehen wird. Um so mehr ist
es vielleicht noch Zeit, daß die öffentliche Meinung ihren Ausspruch abgebe,
der freilich nur in Gestalt der ersten vielfarbigen Mannigfaltigkeit bis zur
Wiedereröffnung des Landtags zu Tage treten kann. Denn bis zum 12. No¬
vember wird die öffentliche Meinung über diese tiefgreifende Frage, deren
Lösung mit überraschender Schnelligkeit sich aufgedrängt hat, zu keiner Eini¬
gung zu gelangen vermögen.

Wir unsererseits vermögen uns nicht der Annahme zu entschlagen, daß
an dem Tage, wo Ernst gemacht wird mit der Reform des Herrenhauses,
gleichzeitig Ernst gemacht werden muß mit der Reform des Abgeordneten¬
hauses. Man übersieht zu häufig, daß nicht nur unser Herrenhaus, sondern
ebenso unser Abgeordnetenhaus auf dem mangelhaftesten und zufälligsten
Vildungsmodus beruhen, daß nicht blos die Leistungen des einen, sondern
auch die des anderen Staatskörpers seit der Wirksamkeit der preußischen Ver¬
fassung zurückgeblieben sind hinter dem, was der Staat von seinen höchsten
Körperschaften fordern mußte und fordern durfte. Nicht blos in der Ge¬
schichte des Herrenhauses gibt es unerfreuliche Blätter. Der Kampf des Ab¬
geordnetenhauses gegen die Heeresreform, aus welchem sich der Verfassungs¬
conflict entwickelte, ist auch ein solches Blatt. Darum sagen wir: ein anderes
Herrenhaus, ein anderes Abgeordnetenhaus, oder noch lieber: kein Herren¬
haus — kein Abgeordnetenhaus, sondern an Stelle beider als berathender
Kilt mitbeschließender Factor der preußischen Gesetzgebung neben dem König
der deutsche Reichstag.

Wir gehen auf keine dieser Möglichkeiten näher ein, so lange die Ab¬
setzten der Staatsregierung nicht hervorgetreten sind. Erst die Verkündigung
dieser Absichten kann den Kern bilden, um welchen die öffentliche Meinung
^ Widerspruch oder Zustimmung sich krystallisirt. Die allgemeine Noth¬
wendigkeit aber, daß der jetzt von der Staatsregierung als unvermeidlich an¬
rannte Pairschub nicht blos zur Durchdringung eines einzelnen Gesetzes,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/287>, abgerufen am 30.06.2024.