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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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seinem Wahlzettel wieder durch, der mit Bleistift geschrieben die Überschrift
trug: Epigrammen. Venedig 1790. Selbst dieser Wahlzettel ist für die Ent¬
stehungsgeschichte der Epigramme höchst wichtig, weil wir aus der Folge der
Aufzeichnungen sehen, daß Goethe nach keiner festbestimmten Ordnung in
einem Buche wählte, sondern daß auch ihm noch die Epigramme auf losen
Blättern vorlagen: er hätte sonst die Ordnung, wie sie heute in den Werken
vor uns liegt und die erst 1796 sich präcisirte, benutzt. Er wählte aber in
der Reihenfolge: (nach Strehlke) II, Ur. 2, (4), 21, 8. S, (Is), 25, 20, 13,
III, 149, 3, II, 30, 15"), 11, 101 und gerade die letzte Nummer dürfte für
die Nichtigkeit unserer Ansicht über das Aeußere seines Epigrammen-Büchleins
maßgebend sein. Die Wahl selbst war sorgfältig; das Mitzutheilende hielt
sich in den Grenzen des Erlaubten; und jedenfalls wirkte Herder's Einfluß
noch nach, der ja, wie wir wissen, dringend dem Dichter von der Publication
der Epigramme in ihrer Gesammtheit abgerathen hatte. Gleiches gilt auch
von der Mittheilung der Epigramme im Octoberhefte der deutschen Monats¬
schrift, in dem aber drei im Album der Herzogin sich befindliche Sinngedichte
und zwar bei Strehlke II 61, 57, 18 abgedruckt wurden, die in der Ueber¬
sichtstabelle wie die des Juniheftes berücksichtigt worden sind.

Wenn wir nun in dem Album der Herzogin jedenfalls eine große An¬
zahl der ältesten Epigramme und zwar in ihrer ursprünglichen Form vor
uns haben, von denen sogar eine Reihe erst in diesen Tagen**) veröffentlicht
worden ist, fo erweist sich diese Quelle auch in anderen Beziehungen höchst
wichtig. Denn sie läßt eben die feinen und characteristischen Aenderungen er¬
kennen, welche Goethe bis 1796 an den Epigrammen vornahm, wo er freilich
eine ungleich größere Anzahl in Schiller's Musenalmanach und zwar 103
zum Abdruck brachte. Von den 73 Epigrammen unseres Albums benutzte er
dabei nur 59; 14, die wir jetzt kennen, ließ er jedenfalls wegen ihres bedenk¬
lichen Inhaltes ganz weg und fügte aus seinem Vorrathe 45, streng genom¬
men 46 andere hinzu, da er zwei (Strehlke II Ur. 23 und 22), welche bisher
eines ausmachten, getrennt behandelte. Von jenen 59 ließ er 38 unverändert,
18 mit kleinen, die wenigen übrigen mit bedeutenden Veränderungen zum Ab¬
druck gelangen.

Wer die Aufgabe hat, Goethe's Schöpfungen eingehender zu würdigen
und sich die wunderbaren Feinheiten zu vergegenwärtigen, die er bei der Re¬
daction seiner Arbeiten zur Geltung zu bringen strebte, wird Goethe's Thätig¬
keit nunmehr leicht nachgehen können. Gerade die Venetianischen Epigramme




-) Also zum 2. Mal aus Versehen gewählt. Die in Parenthese stehenden Zahlen der
Sinngedichte wurden zunächst nicht publicirt.
") In Gosche's Archiv Band II, 512, wo wir den ursprünglichen Text der Epigramme
und einige ungedruckte wiedergegeben haben.

seinem Wahlzettel wieder durch, der mit Bleistift geschrieben die Überschrift
trug: Epigrammen. Venedig 1790. Selbst dieser Wahlzettel ist für die Ent¬
stehungsgeschichte der Epigramme höchst wichtig, weil wir aus der Folge der
Aufzeichnungen sehen, daß Goethe nach keiner festbestimmten Ordnung in
einem Buche wählte, sondern daß auch ihm noch die Epigramme auf losen
Blättern vorlagen: er hätte sonst die Ordnung, wie sie heute in den Werken
vor uns liegt und die erst 1796 sich präcisirte, benutzt. Er wählte aber in
der Reihenfolge: (nach Strehlke) II, Ur. 2, (4), 21, 8. S, (Is), 25, 20, 13,
III, 149, 3, II, 30, 15"), 11, 101 und gerade die letzte Nummer dürfte für
die Nichtigkeit unserer Ansicht über das Aeußere seines Epigrammen-Büchleins
maßgebend sein. Die Wahl selbst war sorgfältig; das Mitzutheilende hielt
sich in den Grenzen des Erlaubten; und jedenfalls wirkte Herder's Einfluß
noch nach, der ja, wie wir wissen, dringend dem Dichter von der Publication
der Epigramme in ihrer Gesammtheit abgerathen hatte. Gleiches gilt auch
von der Mittheilung der Epigramme im Octoberhefte der deutschen Monats¬
schrift, in dem aber drei im Album der Herzogin sich befindliche Sinngedichte
und zwar bei Strehlke II 61, 57, 18 abgedruckt wurden, die in der Ueber¬
sichtstabelle wie die des Juniheftes berücksichtigt worden sind.

Wenn wir nun in dem Album der Herzogin jedenfalls eine große An¬
zahl der ältesten Epigramme und zwar in ihrer ursprünglichen Form vor
uns haben, von denen sogar eine Reihe erst in diesen Tagen**) veröffentlicht
worden ist, fo erweist sich diese Quelle auch in anderen Beziehungen höchst
wichtig. Denn sie läßt eben die feinen und characteristischen Aenderungen er¬
kennen, welche Goethe bis 1796 an den Epigrammen vornahm, wo er freilich
eine ungleich größere Anzahl in Schiller's Musenalmanach und zwar 103
zum Abdruck brachte. Von den 73 Epigrammen unseres Albums benutzte er
dabei nur 59; 14, die wir jetzt kennen, ließ er jedenfalls wegen ihres bedenk¬
lichen Inhaltes ganz weg und fügte aus seinem Vorrathe 45, streng genom¬
men 46 andere hinzu, da er zwei (Strehlke II Ur. 23 und 22), welche bisher
eines ausmachten, getrennt behandelte. Von jenen 59 ließ er 38 unverändert,
18 mit kleinen, die wenigen übrigen mit bedeutenden Veränderungen zum Ab¬
druck gelangen.

Wer die Aufgabe hat, Goethe's Schöpfungen eingehender zu würdigen
und sich die wunderbaren Feinheiten zu vergegenwärtigen, die er bei der Re¬
daction seiner Arbeiten zur Geltung zu bringen strebte, wird Goethe's Thätig¬
keit nunmehr leicht nachgehen können. Gerade die Venetianischen Epigramme




-) Also zum 2. Mal aus Versehen gewählt. Die in Parenthese stehenden Zahlen der
Sinngedichte wurden zunächst nicht publicirt.
") In Gosche's Archiv Band II, 512, wo wir den ursprünglichen Text der Epigramme
und einige ungedruckte wiedergegeben haben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/284>, abgerufen am 30.06.2024.