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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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die. Tendenz der Schöpfung gewesen, wenn er die Epigramme in feste Ord¬
nung gebannt hätte, weil er fortwährend weiter baute, einfügte und zusammen¬
schob. Und gegen die Tendenz meinen wir, war eben die Buchform, weil streng
genommen jedes Epigramm ein selbstständiges Product war. das erst durch
die Ordnung der einzelnen Blätter Anschluß bekam. Daher kommt es, daß
in kürzerer oder längerer Folge der Epigramme eine und dieselbe Idee sich
vertreten und ausgebauet findet; aber Niemand wird finden, daß ein durch¬
gehender Gedanke walten und verarbeitet werden sollte.

In diesem Sinne gestaltete er sein Epigrammenbüchlein zu einem Album.
Jedes Epigramm ließ er in lateinischen Lettern auf ein besonderes Quart¬
blatt mit Goldrand schreiben und überreichte diese in doppelter Kapsel liegen¬
den Blätter der Herzogin Amalia. Der Titel: Epigramme. Venedig 1790.
befand sich ebenso wie die selbstgeschriebene Widmung auf je einem losen
Blatt. Sie lautete:

Sagt wem geb ich dieß Büchlein? Der Fürstinn die mirs gegeben

Die uns Italien jetzt noch in Germanien schafft.

Sprache Goethe's eigenes Zeugniß nicht dagegen, so könnte man versucht
sein, den Inhalt des Albums als die vollständige Schöpfung seines Ve¬
nedi ger Aufenthaltes anzusehen. Da aber das Album, das schon aus äußeren
Gründen ganz unversehrt auf uns gekommen ist, nur 73 Epigramme enthält,
so können wir nicht im Besitze aller zu Venedig geschaffenen sein, weil Goethe
am 4. Mai die Zahl derselben schon auf 100 angab *). Aus welchem Grunde
der Dichter eine vollständige Mittheilung an die Herzogin nicht beliebte, läßt
sich nicht ermitteln; auch darf man an ein längst vorbereitetes. in Italien
selbst überreichtes Geschenk, dessen Inhalt bei dem unerwarteten Ausbleiben
der Herzogin durch Neuschöpfungen überholt wurde, nicht denken, da Material
und Einband ächt deutschen, ja specifisch weimarischen Ursprungs sind.

Ungeachtet dieser Umstände bleibt das Exemplar der Herzogin Amalia
für die Literaturgeschichte höchst wichtig: weil es doch noch immer sehr frühen
Ursprungs ist und vor dem Juni 1791 schon vorhanden war. Den Be¬
weis enthält merkwürdiger Weise das Album selbst. Bevor Goethe zwölf
seiner Sinngedichte für das Juniheft der deutschen Monatsschrift auserwählte,
benutzte er das Exemplar der Herzogin und wählte auffälliger Weise so, daß
er nicht ein einziges der im Album der Amalia vorhandenen Epigramme
zum Abdruck bestimmte. Und als er offenbar gegen seinen Willen in der
Wahl zweier Epigramme irre geleitet war, strich er die Anfangsworte aus



") Herder's Nachlaß I, 120. Brief an Herder's Gattin- Das Büchlein ist schon auf 100
Epigramme angewachsen, wahrscheinlich giebt mir diese Reise noch eins und das andre.

die. Tendenz der Schöpfung gewesen, wenn er die Epigramme in feste Ord¬
nung gebannt hätte, weil er fortwährend weiter baute, einfügte und zusammen¬
schob. Und gegen die Tendenz meinen wir, war eben die Buchform, weil streng
genommen jedes Epigramm ein selbstständiges Product war. das erst durch
die Ordnung der einzelnen Blätter Anschluß bekam. Daher kommt es, daß
in kürzerer oder längerer Folge der Epigramme eine und dieselbe Idee sich
vertreten und ausgebauet findet; aber Niemand wird finden, daß ein durch¬
gehender Gedanke walten und verarbeitet werden sollte.

In diesem Sinne gestaltete er sein Epigrammenbüchlein zu einem Album.
Jedes Epigramm ließ er in lateinischen Lettern auf ein besonderes Quart¬
blatt mit Goldrand schreiben und überreichte diese in doppelter Kapsel liegen¬
den Blätter der Herzogin Amalia. Der Titel: Epigramme. Venedig 1790.
befand sich ebenso wie die selbstgeschriebene Widmung auf je einem losen
Blatt. Sie lautete:

Sagt wem geb ich dieß Büchlein? Der Fürstinn die mirs gegeben

Die uns Italien jetzt noch in Germanien schafft.

Sprache Goethe's eigenes Zeugniß nicht dagegen, so könnte man versucht
sein, den Inhalt des Albums als die vollständige Schöpfung seines Ve¬
nedi ger Aufenthaltes anzusehen. Da aber das Album, das schon aus äußeren
Gründen ganz unversehrt auf uns gekommen ist, nur 73 Epigramme enthält,
so können wir nicht im Besitze aller zu Venedig geschaffenen sein, weil Goethe
am 4. Mai die Zahl derselben schon auf 100 angab *). Aus welchem Grunde
der Dichter eine vollständige Mittheilung an die Herzogin nicht beliebte, läßt
sich nicht ermitteln; auch darf man an ein längst vorbereitetes. in Italien
selbst überreichtes Geschenk, dessen Inhalt bei dem unerwarteten Ausbleiben
der Herzogin durch Neuschöpfungen überholt wurde, nicht denken, da Material
und Einband ächt deutschen, ja specifisch weimarischen Ursprungs sind.

Ungeachtet dieser Umstände bleibt das Exemplar der Herzogin Amalia
für die Literaturgeschichte höchst wichtig: weil es doch noch immer sehr frühen
Ursprungs ist und vor dem Juni 1791 schon vorhanden war. Den Be¬
weis enthält merkwürdiger Weise das Album selbst. Bevor Goethe zwölf
seiner Sinngedichte für das Juniheft der deutschen Monatsschrift auserwählte,
benutzte er das Exemplar der Herzogin und wählte auffälliger Weise so, daß
er nicht ein einziges der im Album der Amalia vorhandenen Epigramme
zum Abdruck bestimmte. Und als er offenbar gegen seinen Willen in der
Wahl zweier Epigramme irre geleitet war, strich er die Anfangsworte aus



") Herder's Nachlaß I, 120. Brief an Herder's Gattin- Das Büchlein ist schon auf 100
Epigramme angewachsen, wahrscheinlich giebt mir diese Reise noch eins und das andre.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/283>, abgerufen am 02.07.2024.