Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.Leid heftig erkrankte. Noch einmal am 4. Mai errang die einst so mächtige Am 10. Mai unterlag das Gagern'sche Programm auch im offenen Parla¬ Leid heftig erkrankte. Noch einmal am 4. Mai errang die einst so mächtige Am 10. Mai unterlag das Gagern'sche Programm auch im offenen Parla¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0020" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128474"/> <p xml:id="ID_36" prev="#ID_35"> Leid heftig erkrankte. Noch einmal am 4. Mai errang die einst so mächtige<lb/> Mehrheit einen Sieg, indem sie den Antrag des Dreißiger-Ausschusses: „Die<lb/> Nationalversammlung solle die Regierungen, die gesetzgebenden Körper der<lb/> Einzelstaaten, das gesammte deutsche Volk auffordern die Reichsverfassung zur<lb/> Anerkennung und Geltung zu bringen", mit 190 gegen 188 Stimmen durch¬<lb/> setzte, gegenüber wilden Anträgen der Linken auf bewaffnete Erhebung gegen<lb/> die rebellischen Fürsten, Einsetzung einer provisorischen Regierung u. s. w.<lb/> Aber während auch der Mehrheit die Macht fehlte, diesen, ohnehin das bis¬<lb/> herige Maaß überschreitenden Beschluß durchzuführen, war in Dresden, in der<lb/> Pfalz, in Baden die Revolution ausgebrochen, verlangte die Linke die feierliche<lb/> Anerkennung dieser Aufstände, war der Einmarsch Preußens in Sachsen er¬<lb/> folgt. Das neue Programm Gagern's: durch die moralische Macht der Cen-<lb/> tralgewalt die Durchführung der Reichsverfassung zu unterstützen, ward vom<lb/> Reichsverweser verworfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_37" next="#ID_38"> Am 10. Mai unterlag das Gagern'sche Programm auch im offenen Parla¬<lb/> mente, während mit 188 gegen 147 Stimmen die Linke jubelnd den Beschluß<lb/> durchsetzte: „Dem schweren Bruche des Reichsfriedens, den die preußische Re¬<lb/> gierung durch unbefugtes Einschreiten in Sachsen sich hat zu Schulden kommen<lb/> lassen, durch alle zu Gebote stehenden Mittel entgegen zu treten." Die Ant¬<lb/> wort Preußens auf diesen Beschluß war die Verordnung vom 14. Mai, in<lb/> welcher das Mandat der preußischen Abgeordneten für erloschen erklärt wurde.<lb/> Noch einmal fast einstimmig erklärte am 16. die Versammlung diese Verord¬<lb/> nung für unverbindlich. Aber schon am 21. Mai zeigten 65 Abgeordnete des<lb/> früheren Centrums, an ihrer Spitze Simson, Gagern, Dahlmann, E. M.<lb/> Arndt, Biedermann, Beseler, Mathy, Droysen, Duncker u. A. überhaupt der<lb/> Kern der preußischen Partei, die Niederlegung ihrer Mandate an. Motivirt<lb/> war dieser Schritt u. A. damit: „Die Reichsversammlung hat nur die Wahl,<lb/> entweder unter Beseitigung der bisherigen Centralgewalt das letzte gemeinsame<lb/> und gesetzliche Band zwischen allen deutschen Regierungen und Völkern zu<lb/> zerreißen und einen Bürgerkrieg zu verbreiten, dessen Beginn schon die Grund¬<lb/> lage aller gesellschaftlichen Ordnung erschütterthat, oder auf die weitere Durch¬<lb/> führung der' Reichsverfassung durch gesetzgebende Thätigkeit von ihrer Seite<lb/> und unter Mitwirkung der provisorischen Centralgewalt Verzicht zu leisten.<lb/> Die Unterzeichneten haben unter diesen beiden Uebeln das letztere als das für<lb/> das Vaterland geringere erachtet — und übergeben das Verfassungswerk für<lb/> jetzt den gesetzlichen Organen der Einzelstaaten und der selbstthätigen Fort¬<lb/> bildung der Nation." In dieser Beschränkung lag freilich ein sehr geringes<lb/> Maß tröstlicher Hoffnungen für die Zukunft — indeß konnte und durfte der<lb/> Austritt der preußischen Partei nicht länger verschoben werden. Keinem ist<lb/> der Schritt vielleicht schwerer gefallen als Simson. Als er dennoch seinen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0020]
Leid heftig erkrankte. Noch einmal am 4. Mai errang die einst so mächtige
Mehrheit einen Sieg, indem sie den Antrag des Dreißiger-Ausschusses: „Die
Nationalversammlung solle die Regierungen, die gesetzgebenden Körper der
Einzelstaaten, das gesammte deutsche Volk auffordern die Reichsverfassung zur
Anerkennung und Geltung zu bringen", mit 190 gegen 188 Stimmen durch¬
setzte, gegenüber wilden Anträgen der Linken auf bewaffnete Erhebung gegen
die rebellischen Fürsten, Einsetzung einer provisorischen Regierung u. s. w.
Aber während auch der Mehrheit die Macht fehlte, diesen, ohnehin das bis¬
herige Maaß überschreitenden Beschluß durchzuführen, war in Dresden, in der
Pfalz, in Baden die Revolution ausgebrochen, verlangte die Linke die feierliche
Anerkennung dieser Aufstände, war der Einmarsch Preußens in Sachsen er¬
folgt. Das neue Programm Gagern's: durch die moralische Macht der Cen-
tralgewalt die Durchführung der Reichsverfassung zu unterstützen, ward vom
Reichsverweser verworfen.
Am 10. Mai unterlag das Gagern'sche Programm auch im offenen Parla¬
mente, während mit 188 gegen 147 Stimmen die Linke jubelnd den Beschluß
durchsetzte: „Dem schweren Bruche des Reichsfriedens, den die preußische Re¬
gierung durch unbefugtes Einschreiten in Sachsen sich hat zu Schulden kommen
lassen, durch alle zu Gebote stehenden Mittel entgegen zu treten." Die Ant¬
wort Preußens auf diesen Beschluß war die Verordnung vom 14. Mai, in
welcher das Mandat der preußischen Abgeordneten für erloschen erklärt wurde.
Noch einmal fast einstimmig erklärte am 16. die Versammlung diese Verord¬
nung für unverbindlich. Aber schon am 21. Mai zeigten 65 Abgeordnete des
früheren Centrums, an ihrer Spitze Simson, Gagern, Dahlmann, E. M.
Arndt, Biedermann, Beseler, Mathy, Droysen, Duncker u. A. überhaupt der
Kern der preußischen Partei, die Niederlegung ihrer Mandate an. Motivirt
war dieser Schritt u. A. damit: „Die Reichsversammlung hat nur die Wahl,
entweder unter Beseitigung der bisherigen Centralgewalt das letzte gemeinsame
und gesetzliche Band zwischen allen deutschen Regierungen und Völkern zu
zerreißen und einen Bürgerkrieg zu verbreiten, dessen Beginn schon die Grund¬
lage aller gesellschaftlichen Ordnung erschütterthat, oder auf die weitere Durch¬
führung der' Reichsverfassung durch gesetzgebende Thätigkeit von ihrer Seite
und unter Mitwirkung der provisorischen Centralgewalt Verzicht zu leisten.
Die Unterzeichneten haben unter diesen beiden Uebeln das letztere als das für
das Vaterland geringere erachtet — und übergeben das Verfassungswerk für
jetzt den gesetzlichen Organen der Einzelstaaten und der selbstthätigen Fort¬
bildung der Nation." In dieser Beschränkung lag freilich ein sehr geringes
Maß tröstlicher Hoffnungen für die Zukunft — indeß konnte und durfte der
Austritt der preußischen Partei nicht länger verschoben werden. Keinem ist
der Schritt vielleicht schwerer gefallen als Simson. Als er dennoch seinen
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