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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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weglichkeit und Unregelmäßigkeit in die französischen Lager kam, die nicht
anders, denn als eine fortgesetzte Verwirrung und Unordnung characterisirt
werden kann.*)

Die Disciplin der französischen Armee war im Feldzuge 1870 von
Anfang an schlecht. Die grade in den letzten Jahren ungemein gesteigerte
Leichtfertigkeit und Genußsucht, innere Rohheit und ungezügelte Leidenschaft¬
lichkeit unter dem täuschenden Firniß äußerer Politur hatte auf die Armee
zersetzend und verderbend eingewirkt. Obendrein hatten extreme politische
Parteien in ihren Reihen Verbreitung gefunden und sowohl die bestehende
Negierung ihres Ansehens beraubt als die Soldaten dem Socialismus zu
nicht geringem Theil gewonnen. Daher klagten fast alle Generale und Offi-
ciere über die Zuchtlosigkeit in den Regimentern und fürchteten sich doch auch
wieder, energisch gegen dieselbe einzuschreiten. Bancalari berichtet, daß er
wiederholt der Klage begegnet sei, daß viele Commandanten unmittelbar nach
Beginn der Feindseligkeiten die sehr heilsamen Disciplinarmittel gleichsam
suspendirt hätten und daß ein Coquettiren mit der stets zur Auflehnung und
zu Widerreden geneigten Mannschaft Platz gegriffen habe, so daß es den
Unterführern schwer wurde, mit den Untergebenen auszukommen, wenn nicht
ihre Persönlichkeit selbst imponirte. -- Die Niederlagen in der ersten Hälfte
des August erschütterten die Manneszucht bis ins Mark. Da heißt es in
aufgefangenen Briefen: "Die Disciplin ist völlig gelockert. Das Marodiren
an der Tagesordnung. Es empfiehlt sich, diese Truppen per Eisenbahn nach
Chalons zu befördern, um der Bevölkerung einen so überaus traurigen Anblick
zu ersparen." -- Oder: "Wir sind geradezu davon gelaufen, um hier 30-
bis 40000 Mann stark, ohne Lebensmittel und ohne Fourage bei Mars-la-
Tour zu campiren. Die Dörfer sind ausgesogen, wir ruiniren das Land.
Die Märsche sind enorm um 6 Uhr Abends waren wir noch nicht zur Ruhe
gekommen und hatten nichts genossen; dabei einen Marsch von 10 liöuos
querfeldein hinter uns. Die Nächte sind kalt; unsere Bagage ist uns abhanden
gekommen; die Fatigue war so groß, daß die Mannschaften ihr Gepäck weg¬
warfen, und man sah die Wege bedeckt mit Hemden, Schuhen, Bürsten,
Säbeln und selbst Gewehren, genügend, um eine Reihe Wagen damit zu be¬
laden. So ist die französische Armee, und so haben wir den berühmten
13. August (den Napoleonstag) verlebt. Heute Morgen erhalten wir wieder
Ordre, uns marschfertig zu machen; es wird wie immer sein; kaum zeigt sich
ein Preuße, so ziehen wir ab." -- Andere Briefe sprechen von "Verrath"
oder lassen erkennen, daß den Truppen vorgespiegelt worden, ihre forcirten
Märsche seien nöthig, um die Preußen auf ihrem Rückzüge zu ereilen und zu



Bancalari a. a. O.

weglichkeit und Unregelmäßigkeit in die französischen Lager kam, die nicht
anders, denn als eine fortgesetzte Verwirrung und Unordnung characterisirt
werden kann.*)

Die Disciplin der französischen Armee war im Feldzuge 1870 von
Anfang an schlecht. Die grade in den letzten Jahren ungemein gesteigerte
Leichtfertigkeit und Genußsucht, innere Rohheit und ungezügelte Leidenschaft¬
lichkeit unter dem täuschenden Firniß äußerer Politur hatte auf die Armee
zersetzend und verderbend eingewirkt. Obendrein hatten extreme politische
Parteien in ihren Reihen Verbreitung gefunden und sowohl die bestehende
Negierung ihres Ansehens beraubt als die Soldaten dem Socialismus zu
nicht geringem Theil gewonnen. Daher klagten fast alle Generale und Offi-
ciere über die Zuchtlosigkeit in den Regimentern und fürchteten sich doch auch
wieder, energisch gegen dieselbe einzuschreiten. Bancalari berichtet, daß er
wiederholt der Klage begegnet sei, daß viele Commandanten unmittelbar nach
Beginn der Feindseligkeiten die sehr heilsamen Disciplinarmittel gleichsam
suspendirt hätten und daß ein Coquettiren mit der stets zur Auflehnung und
zu Widerreden geneigten Mannschaft Platz gegriffen habe, so daß es den
Unterführern schwer wurde, mit den Untergebenen auszukommen, wenn nicht
ihre Persönlichkeit selbst imponirte. — Die Niederlagen in der ersten Hälfte
des August erschütterten die Manneszucht bis ins Mark. Da heißt es in
aufgefangenen Briefen: „Die Disciplin ist völlig gelockert. Das Marodiren
an der Tagesordnung. Es empfiehlt sich, diese Truppen per Eisenbahn nach
Chalons zu befördern, um der Bevölkerung einen so überaus traurigen Anblick
zu ersparen." — Oder: „Wir sind geradezu davon gelaufen, um hier 30-
bis 40000 Mann stark, ohne Lebensmittel und ohne Fourage bei Mars-la-
Tour zu campiren. Die Dörfer sind ausgesogen, wir ruiniren das Land.
Die Märsche sind enorm um 6 Uhr Abends waren wir noch nicht zur Ruhe
gekommen und hatten nichts genossen; dabei einen Marsch von 10 liöuos
querfeldein hinter uns. Die Nächte sind kalt; unsere Bagage ist uns abhanden
gekommen; die Fatigue war so groß, daß die Mannschaften ihr Gepäck weg¬
warfen, und man sah die Wege bedeckt mit Hemden, Schuhen, Bürsten,
Säbeln und selbst Gewehren, genügend, um eine Reihe Wagen damit zu be¬
laden. So ist die französische Armee, und so haben wir den berühmten
13. August (den Napoleonstag) verlebt. Heute Morgen erhalten wir wieder
Ordre, uns marschfertig zu machen; es wird wie immer sein; kaum zeigt sich
ein Preuße, so ziehen wir ab." — Andere Briefe sprechen von „Verrath"
oder lassen erkennen, daß den Truppen vorgespiegelt worden, ihre forcirten
Märsche seien nöthig, um die Preußen auf ihrem Rückzüge zu ereilen und zu



Bancalari a. a. O.
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[0186] weglichkeit und Unregelmäßigkeit in die französischen Lager kam, die nicht anders, denn als eine fortgesetzte Verwirrung und Unordnung characterisirt werden kann.*) Die Disciplin der französischen Armee war im Feldzuge 1870 von Anfang an schlecht. Die grade in den letzten Jahren ungemein gesteigerte Leichtfertigkeit und Genußsucht, innere Rohheit und ungezügelte Leidenschaft¬ lichkeit unter dem täuschenden Firniß äußerer Politur hatte auf die Armee zersetzend und verderbend eingewirkt. Obendrein hatten extreme politische Parteien in ihren Reihen Verbreitung gefunden und sowohl die bestehende Negierung ihres Ansehens beraubt als die Soldaten dem Socialismus zu nicht geringem Theil gewonnen. Daher klagten fast alle Generale und Offi- ciere über die Zuchtlosigkeit in den Regimentern und fürchteten sich doch auch wieder, energisch gegen dieselbe einzuschreiten. Bancalari berichtet, daß er wiederholt der Klage begegnet sei, daß viele Commandanten unmittelbar nach Beginn der Feindseligkeiten die sehr heilsamen Disciplinarmittel gleichsam suspendirt hätten und daß ein Coquettiren mit der stets zur Auflehnung und zu Widerreden geneigten Mannschaft Platz gegriffen habe, so daß es den Unterführern schwer wurde, mit den Untergebenen auszukommen, wenn nicht ihre Persönlichkeit selbst imponirte. — Die Niederlagen in der ersten Hälfte des August erschütterten die Manneszucht bis ins Mark. Da heißt es in aufgefangenen Briefen: „Die Disciplin ist völlig gelockert. Das Marodiren an der Tagesordnung. Es empfiehlt sich, diese Truppen per Eisenbahn nach Chalons zu befördern, um der Bevölkerung einen so überaus traurigen Anblick zu ersparen." — Oder: „Wir sind geradezu davon gelaufen, um hier 30- bis 40000 Mann stark, ohne Lebensmittel und ohne Fourage bei Mars-la- Tour zu campiren. Die Dörfer sind ausgesogen, wir ruiniren das Land. Die Märsche sind enorm um 6 Uhr Abends waren wir noch nicht zur Ruhe gekommen und hatten nichts genossen; dabei einen Marsch von 10 liöuos querfeldein hinter uns. Die Nächte sind kalt; unsere Bagage ist uns abhanden gekommen; die Fatigue war so groß, daß die Mannschaften ihr Gepäck weg¬ warfen, und man sah die Wege bedeckt mit Hemden, Schuhen, Bürsten, Säbeln und selbst Gewehren, genügend, um eine Reihe Wagen damit zu be¬ laden. So ist die französische Armee, und so haben wir den berühmten 13. August (den Napoleonstag) verlebt. Heute Morgen erhalten wir wieder Ordre, uns marschfertig zu machen; es wird wie immer sein; kaum zeigt sich ein Preuße, so ziehen wir ab." — Andere Briefe sprechen von „Verrath" oder lassen erkennen, daß den Truppen vorgespiegelt worden, ihre forcirten Märsche seien nöthig, um die Preußen auf ihrem Rückzüge zu ereilen und zu Bancalari a. a. O.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/186>, abgerufen am 22.07.2024.