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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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groß, daß man es schon nach zwei Jahren wieder aufgab. Ganz insgeheim
ließ der Kaiser auf der kreidigen, unfruchtbaren Champagne pouilleuse zwei
Meilen von Chalons durch Unterhändler ein bedeutendes Terrain kaufen, auf
welchem die Truppen im Sommer 1857 ein Lager bezogen und welches seit¬
dem jährlich von 20 bis 33 Tausend Mann bewohnt wurde. Jedes Jahr
führte das oberste Commando des Lagers ein anderer Marschall von Frank¬
reich , und vom 18. bis 25. Aug. pflegte der Kaiser im Lager zu verweilen.
In diese Zeit fielen die größten Manöver, bei denen zuweilen bestimmte
Fragen militärischer Theorie praktisch beantwortet werden sollten. Der höchste
Effectivbestand der Truppen im Lager von Chalons fällt in das Jahr 18S8
mit 76,400 Mann, der mittlere in das Jahr 1869 mit 29,700, der niedrigste
in das Jahr 1865 mit 18.000 Mann.*) Man hatte gehofft, in diesem Lager
und in anderen, kleineren, welche nach dem Muster desselben errichtet wurden.
Schulen militärischer Tüchtigkeit und Disciplin, Pflegestätten ächt soldatischen
Geistes, großartige Uebungsplätze für die Feldadministration und das Mili-
tärmedicinalwesen zu besitzen; aber die Stabilität der Lager, die laxe Praxis
und die Unmöglichkeit auf dem unzureichenden Terrain, die Truppen ange¬
messen zu beschäftigen, ließen diese Hoffnung zu Schanden werden, und bald
wurden die Lager, weit entfernt, die deutschen Manöver zu ersetzen, eine Quelle
fauler Routine und immer neuer Selbsttäuschung für Officiere wie Soldaten.
Dennoch behielt man sie bei und hörte nicht auf, sie zu preisen. "I.a Lastro-
manie" nennt ein französischer Schriftsteller^) diese Lagersucht, die ihren Ur¬
sprung übrigens nicht bloß in falschen Ansichten über Truppenerziehung, son¬
dern auch in politischen und ökonomischen Verhältnissen hat.

Der ungeheuere Preis der Ländereien in Frankreich und besonders in der
Umgegend von Paris führt die Negierung dazu, sich damit zu begnügen, wenn
die Truppen in den Lagern untergebracht sind, ohne zu bedenken, daß das
ihnen angewiesene kleine Gelände weder eine gründliche Ausbildung noch ein
Manövriren zuläßt. Nicht selten lagern Divisionen aus einem Terrain, das
kaum für Uebungen eines Regiments ausreicht.

Die Truppenführer verlieren durch die fortwährende Bevormundung in
den Lagern an Selbstständigkeit. Da ihnen überall die Hände gebunden sind
und die Zeit ihnen vorgeschrieben wird, können sie. ohne mit anderen Truppen-
theilen zu collidiren, selbstständig kaum etwas vornehmen, und die Mannschaften
haben, ohne ausgebildet zu werden, so viel Zeit übrig, daß sie, abgeschlossen




") Die stehenden Lager von Chalons und Krasnon-Scio. (Unsere Zeit. 18A!,)
") ZZuxsriö LruuovIlitLLv: Q", vasti'Oirümiö. (I^o Spvvtirtour militairs 16. vovbr.
1872.)

groß, daß man es schon nach zwei Jahren wieder aufgab. Ganz insgeheim
ließ der Kaiser auf der kreidigen, unfruchtbaren Champagne pouilleuse zwei
Meilen von Chalons durch Unterhändler ein bedeutendes Terrain kaufen, auf
welchem die Truppen im Sommer 1857 ein Lager bezogen und welches seit¬
dem jährlich von 20 bis 33 Tausend Mann bewohnt wurde. Jedes Jahr
führte das oberste Commando des Lagers ein anderer Marschall von Frank¬
reich , und vom 18. bis 25. Aug. pflegte der Kaiser im Lager zu verweilen.
In diese Zeit fielen die größten Manöver, bei denen zuweilen bestimmte
Fragen militärischer Theorie praktisch beantwortet werden sollten. Der höchste
Effectivbestand der Truppen im Lager von Chalons fällt in das Jahr 18S8
mit 76,400 Mann, der mittlere in das Jahr 1869 mit 29,700, der niedrigste
in das Jahr 1865 mit 18.000 Mann.*) Man hatte gehofft, in diesem Lager
und in anderen, kleineren, welche nach dem Muster desselben errichtet wurden.
Schulen militärischer Tüchtigkeit und Disciplin, Pflegestätten ächt soldatischen
Geistes, großartige Uebungsplätze für die Feldadministration und das Mili-
tärmedicinalwesen zu besitzen; aber die Stabilität der Lager, die laxe Praxis
und die Unmöglichkeit auf dem unzureichenden Terrain, die Truppen ange¬
messen zu beschäftigen, ließen diese Hoffnung zu Schanden werden, und bald
wurden die Lager, weit entfernt, die deutschen Manöver zu ersetzen, eine Quelle
fauler Routine und immer neuer Selbsttäuschung für Officiere wie Soldaten.
Dennoch behielt man sie bei und hörte nicht auf, sie zu preisen. „I.a Lastro-
manie" nennt ein französischer Schriftsteller^) diese Lagersucht, die ihren Ur¬
sprung übrigens nicht bloß in falschen Ansichten über Truppenerziehung, son¬
dern auch in politischen und ökonomischen Verhältnissen hat.

Der ungeheuere Preis der Ländereien in Frankreich und besonders in der
Umgegend von Paris führt die Negierung dazu, sich damit zu begnügen, wenn
die Truppen in den Lagern untergebracht sind, ohne zu bedenken, daß das
ihnen angewiesene kleine Gelände weder eine gründliche Ausbildung noch ein
Manövriren zuläßt. Nicht selten lagern Divisionen aus einem Terrain, das
kaum für Uebungen eines Regiments ausreicht.

Die Truppenführer verlieren durch die fortwährende Bevormundung in
den Lagern an Selbstständigkeit. Da ihnen überall die Hände gebunden sind
und die Zeit ihnen vorgeschrieben wird, können sie. ohne mit anderen Truppen-
theilen zu collidiren, selbstständig kaum etwas vornehmen, und die Mannschaften
haben, ohne ausgebildet zu werden, so viel Zeit übrig, daß sie, abgeschlossen




") Die stehenden Lager von Chalons und Krasnon-Scio. (Unsere Zeit. 18A!,)
") ZZuxsriö LruuovIlitLLv: Q», vasti'Oirümiö. (I^o Spvvtirtour militairs 16. vovbr.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/110>, abgerufen am 25.07.2024.