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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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weniger begünstigende Einflüsse thätig gewesen, als etwa für die antikklassische
Philologie. Erst seitdem das Studium der deutschen Geschichte und Alter-
thumskunde in so lebhaften Aufschwung getreten ist, ist jenes nahe verwandte
Feld unserm wissenschaftlichen Gesichtskreis näher getreten. Jeder dem es
um die eindringende Kenntniß des deutschen Wesens in seiner ursprünglichen
Ausstattung ernstlich zu thun ist, mag er nun mehr durch auteur- und sitten¬
geschichtliche oder rechtshistorische Gesichtspunkte geleitet werden, oder der künst¬
lerischen Eigenart seines Volkes nachspüren oder endlich an der Sprache den
unverhüllten Ausdruck seiner geistigen Physiognomie zu erforschen sich bemühen --
jeder von allen diesen verschiedenen Schaaren der Germanisten oder Erforscher
des deutschen Wesens wird je weiter er auf seiner Bahn fortschreitet, um so
deutlicher die unvergleichliche Quelle der Belehrung und Erkenntniß würdigen
lernen, welche sich ihm in der nordischen Poesie erschließt. Aber man hüte
sich, jene durch so weitschichtige und tiefgehende Arbeit ermöglichte Ver¬
ständigung mit ihrem Geiste auch da gleichsam als ein Postulat der allge¬
meinen Bildung zu beanspruchen, wo diese Voraussetzungen fehlen. Alle
Scandinavisten von heute und von aller Zukunft werden die altnordische
Poesie niemals bei uns populär machen, wie es Homer oder Shakespeare sind.
Im allgemeinen pflegt man den Werth einer Literatur nach ihrer poetischen
Leistungsfähigkeit zu schätzen und mit Recht. Aber in unserm Falle ist es
mindestens nicht praktisch diesen Maßstab festzuhalten, denn die altnordische
Poesie ist eine abstruse Singularität, zu der sich höchstens in den dürftigen
und durch systematische Betrügereien entstellten Trümmern der keltischen Bar¬
dendichtung des Mittelalters etwas in mancher Hinsicht wahlverwandtes stellen
läßt, die nordische Poesie aber ein Phänomen ohne Gleichen in ihrer Zeit
sowohl was den Gehalt als was die Form betrifft. Bekanntlich sind überall
in Europa die Literaturen der verschiedenen Culturvölker romanischer und
germanischer Abkunft bis weit in das Mittelalter herab fast ausschließlich
poetisch und man weiß auch die culturgeschichlichen Gründe aufzuzählen,
warum es so und nicht anders sein konnte. Wir setzen sie hier als bekannt
oder doch als leicht erfindlich voraus; um so wundersamer berührt es, in dem
abgelegensten Winkel der damaligen europäischen Welt eine Prosaliteratur zu
finden, die auch bei ihrem Publicum der poetischen mindestens das Gleichge¬
wicht gehalten haben muß, denn woher hätte sie sonst diese vollendete Pflege
und diesen wahrhaft unabsehbaren Umfang gewinnen können? Sie hat sich
wie die Poesie ganz aus sich selbst, nicht wie alle andern mittelalterlichen
Literaturen, Poesie und Presse, auf dem Untergrund der ganzen vorangegangenen
Cultur und in stäter befruchtender und maßgebender Wechselwirkung mit der
Geistesgeschichte aller Nachbarn und der Gesammtheit der Welt entwickelt.
Wie die Poesie, bezeugt auch sie die vollste Eigenart das germanischen Genius


weniger begünstigende Einflüsse thätig gewesen, als etwa für die antikklassische
Philologie. Erst seitdem das Studium der deutschen Geschichte und Alter-
thumskunde in so lebhaften Aufschwung getreten ist, ist jenes nahe verwandte
Feld unserm wissenschaftlichen Gesichtskreis näher getreten. Jeder dem es
um die eindringende Kenntniß des deutschen Wesens in seiner ursprünglichen
Ausstattung ernstlich zu thun ist, mag er nun mehr durch auteur- und sitten¬
geschichtliche oder rechtshistorische Gesichtspunkte geleitet werden, oder der künst¬
lerischen Eigenart seines Volkes nachspüren oder endlich an der Sprache den
unverhüllten Ausdruck seiner geistigen Physiognomie zu erforschen sich bemühen —
jeder von allen diesen verschiedenen Schaaren der Germanisten oder Erforscher
des deutschen Wesens wird je weiter er auf seiner Bahn fortschreitet, um so
deutlicher die unvergleichliche Quelle der Belehrung und Erkenntniß würdigen
lernen, welche sich ihm in der nordischen Poesie erschließt. Aber man hüte
sich, jene durch so weitschichtige und tiefgehende Arbeit ermöglichte Ver¬
ständigung mit ihrem Geiste auch da gleichsam als ein Postulat der allge¬
meinen Bildung zu beanspruchen, wo diese Voraussetzungen fehlen. Alle
Scandinavisten von heute und von aller Zukunft werden die altnordische
Poesie niemals bei uns populär machen, wie es Homer oder Shakespeare sind.
Im allgemeinen pflegt man den Werth einer Literatur nach ihrer poetischen
Leistungsfähigkeit zu schätzen und mit Recht. Aber in unserm Falle ist es
mindestens nicht praktisch diesen Maßstab festzuhalten, denn die altnordische
Poesie ist eine abstruse Singularität, zu der sich höchstens in den dürftigen
und durch systematische Betrügereien entstellten Trümmern der keltischen Bar¬
dendichtung des Mittelalters etwas in mancher Hinsicht wahlverwandtes stellen
läßt, die nordische Poesie aber ein Phänomen ohne Gleichen in ihrer Zeit
sowohl was den Gehalt als was die Form betrifft. Bekanntlich sind überall
in Europa die Literaturen der verschiedenen Culturvölker romanischer und
germanischer Abkunft bis weit in das Mittelalter herab fast ausschließlich
poetisch und man weiß auch die culturgeschichlichen Gründe aufzuzählen,
warum es so und nicht anders sein konnte. Wir setzen sie hier als bekannt
oder doch als leicht erfindlich voraus; um so wundersamer berührt es, in dem
abgelegensten Winkel der damaligen europäischen Welt eine Prosaliteratur zu
finden, die auch bei ihrem Publicum der poetischen mindestens das Gleichge¬
wicht gehalten haben muß, denn woher hätte sie sonst diese vollendete Pflege
und diesen wahrhaft unabsehbaren Umfang gewinnen können? Sie hat sich
wie die Poesie ganz aus sich selbst, nicht wie alle andern mittelalterlichen
Literaturen, Poesie und Presse, auf dem Untergrund der ganzen vorangegangenen
Cultur und in stäter befruchtender und maßgebender Wechselwirkung mit der
Geistesgeschichte aller Nachbarn und der Gesammtheit der Welt entwickelt.
Wie die Poesie, bezeugt auch sie die vollste Eigenart das germanischen Genius


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/99>, abgerufen am 22.07.2024.