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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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und deshalb ist sie von einzigem Werth für die Erkenntniß der nationalen
Substanz. Ihre Ueberlegenheit über die Poesie existirt allerdings nur für
unsere heutigen Augen, aber diese haben das Recht, nach ihren Gesetzen die
Erscheinungen der Vorzeit zu sehen und zu beurtheilen. Denn gehörig ver¬
standen wird das Wort: "was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im
Grund der Herren eigener Geist" stets die berechtigte Norm für alle Geschichts¬
auffassung und alles Geschichtsverständniß bleiben. Wir sind demnach zu dem
Schlüsse vollständig befugt, daß die germanische Geistesanlage wo sie in ihrer
unangetasteten Ursprünglichkeit sich ausleben konnte, was ihr nur im Norden
zu Theil wurde, eine entschieden höhere Begabung für die prosaische Darstellung
als für die poetische besaß, daß ihr der prosaische Ausdruck die eigentlich naturge¬
mäße Kunstform, der poetische nicht zwar etwas fremdartiges, denn sonst
hätte sie überhaupt ihn bei Seite gelassen, doch aber eine Art von unnatür¬
lichem Zwange war, dessen sie freilich nicht entbehren konnte, um ihrem eigenen
idealen Bedürfnisse völlig gerecht zu werden, in dem sie sich aber nie mit vollem
Behagen wohl fühlte.

Die altnordische Poesie hat es niemals zu einer wirklichen Epik gebracht,
in der Prosa haben wir den Ersatz dafür und die eminente Stellung der
Prosa ist wie die Folge, so auch die äußere Veranlassung daß es keine Epik
giebt. Wie der moderne Prosaroman nicht ohne innere Berechtigung als der
ablösende Stellvertreter des Epos gilt, so ist aus jenem uralten Boden die
Prosaerzählung der poetischen über den Kopf gewachsen und hat sie erstickt,
ehe sie zu ihrer Reife gelangte.

Diese, wie uns scheint noch keineswegs nach Gebühr gewürdigte cultur¬
geschichtliche Thatsache könnte der modernen Wissenschaft der Völkerpsychologie
viel zu denken geben. Stellen wir hier wenigstens einige Gesichtspunkte fest.

Die germanische Individualität an sich hat sich nicht unfähig für eine
wirkliche Epik im ächtesten Sinne des Wortes erwiesen. Wir kennen sie in
ihrer ursprünglichsten Gestalt freilich nur in dürftigen Trümmer in einigen
angelsächsischen Bruchstücken, zu denen man den bekannten Beowulf in seiner
jetzigen heillos corrumpirten Ruine nicht rechnen darf und in den Trümmern
des deutschen Hildubrandsliedes. Es reicht aber aus um zu sehen, daß hier
ein wirklich epischer Geist eine ganze Phase der Volksseele beherrschte und daß
diese künstlerisch genug angelegt war, um dafür auch eine ächt epische Form
zu finden. Mag man sie an Homer oder an wem sonst messen, immer wird
man bei unparteiischer und eindringender Prüfung finden, daß auch hier
innerhalb der gegebenen Grundlagen des Stoffes und der sprachlichen Hülfs¬
mittel etwas in seiner Art vollendetes erreicht worden ist. Wie kommt es
nun, daß dem germanischen Norden das nicht gelungen ist, was seine andern
Stammesgenossen vermochten. Sollen wir innerhalb der gemeinsamen ger-


und deshalb ist sie von einzigem Werth für die Erkenntniß der nationalen
Substanz. Ihre Ueberlegenheit über die Poesie existirt allerdings nur für
unsere heutigen Augen, aber diese haben das Recht, nach ihren Gesetzen die
Erscheinungen der Vorzeit zu sehen und zu beurtheilen. Denn gehörig ver¬
standen wird das Wort: „was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im
Grund der Herren eigener Geist" stets die berechtigte Norm für alle Geschichts¬
auffassung und alles Geschichtsverständniß bleiben. Wir sind demnach zu dem
Schlüsse vollständig befugt, daß die germanische Geistesanlage wo sie in ihrer
unangetasteten Ursprünglichkeit sich ausleben konnte, was ihr nur im Norden
zu Theil wurde, eine entschieden höhere Begabung für die prosaische Darstellung
als für die poetische besaß, daß ihr der prosaische Ausdruck die eigentlich naturge¬
mäße Kunstform, der poetische nicht zwar etwas fremdartiges, denn sonst
hätte sie überhaupt ihn bei Seite gelassen, doch aber eine Art von unnatür¬
lichem Zwange war, dessen sie freilich nicht entbehren konnte, um ihrem eigenen
idealen Bedürfnisse völlig gerecht zu werden, in dem sie sich aber nie mit vollem
Behagen wohl fühlte.

Die altnordische Poesie hat es niemals zu einer wirklichen Epik gebracht,
in der Prosa haben wir den Ersatz dafür und die eminente Stellung der
Prosa ist wie die Folge, so auch die äußere Veranlassung daß es keine Epik
giebt. Wie der moderne Prosaroman nicht ohne innere Berechtigung als der
ablösende Stellvertreter des Epos gilt, so ist aus jenem uralten Boden die
Prosaerzählung der poetischen über den Kopf gewachsen und hat sie erstickt,
ehe sie zu ihrer Reife gelangte.

Diese, wie uns scheint noch keineswegs nach Gebühr gewürdigte cultur¬
geschichtliche Thatsache könnte der modernen Wissenschaft der Völkerpsychologie
viel zu denken geben. Stellen wir hier wenigstens einige Gesichtspunkte fest.

Die germanische Individualität an sich hat sich nicht unfähig für eine
wirkliche Epik im ächtesten Sinne des Wortes erwiesen. Wir kennen sie in
ihrer ursprünglichsten Gestalt freilich nur in dürftigen Trümmer in einigen
angelsächsischen Bruchstücken, zu denen man den bekannten Beowulf in seiner
jetzigen heillos corrumpirten Ruine nicht rechnen darf und in den Trümmern
des deutschen Hildubrandsliedes. Es reicht aber aus um zu sehen, daß hier
ein wirklich epischer Geist eine ganze Phase der Volksseele beherrschte und daß
diese künstlerisch genug angelegt war, um dafür auch eine ächt epische Form
zu finden. Mag man sie an Homer oder an wem sonst messen, immer wird
man bei unparteiischer und eindringender Prüfung finden, daß auch hier
innerhalb der gegebenen Grundlagen des Stoffes und der sprachlichen Hülfs¬
mittel etwas in seiner Art vollendetes erreicht worden ist. Wie kommt es
nun, daß dem germanischen Norden das nicht gelungen ist, was seine andern
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/100>, abgerufen am 22.07.2024.