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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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dieser Seite her, wie es Simrock versucht, das Gewissen schärfen wollte. Selbst
wenn es begriffen hat, daß diese altnordische poetische Welt unter gewissen Voraus¬
setzungen einstmals in einer grauen Vergangenheit ein Stück seines eigenen
Wesens war, würde es, so hoffen wir von seinem Ehrgefühl, wohl einige Hoch¬
achtung dafür empfinden, aber sie nichts desto weniger ungenießbar und unver¬
ständlich finden. Es gehört zu den größten Tugenden der deutschen Art, daß
sie sich niemals zu irgend welchen sogenannten besten Zwecken etwas vorlügt,
oder vorlügen läßt, woran Gefühl und Verstand keinen Theil haben. Wir
Deutschen sind ein für allemal für die Jesuitenmoral, auch für die patriotische
verdorben und wollen in allen Stücken, auch wo es nationales Interesse gilt,
ehrlich und gewissenhaft sein und bleiben. Anderwärts ließe sich ein solcher
patriotischer Humbug recht wohl denken und in Scandinavien, besonders in
Kopenhagen, ist er wirklich bis zu einem gewissen Erfolge für die Edda sammt
Anhängseln in Scene gesetzt worden und thätig. Denn auch dort müßte ein
Publicum, das in den Gebilden der modernen Poesie in der kosmopolitischsten
Bedeutung des Wortes aufgewachsen ist, sich von den Abstrusitäten und Ab¬
sonderlichkeiten der altnordischen Muse ebenso frostig berührt finden, wie es
unserm deutschen Publicum geschieht. Aber da man dort schon längst von Ge¬
wissen und Ehrlichkeit in allen den Fragen zu abstrahiren sich gewöhnt hat,
bei denen das nationale Selbstbewußtsein betheiligt ist, so muß sich auch das
ästhetische Gefühl durch die Tendenz terrorisiren lassen.

Denn man glaube nur nicht, daß die Edda und ihre poetischen Verwandten
eine ähnliche Stellung zu dem nordischen Geistesleben von heute einnehmen,
wie die Nibelungen oder der Parzival zu unserer Gegenwart. Denn alt¬
nordische Poesie ist durch und durch ein selbstwüchsiges Erzeugniß, welches das
ausschließliche Gepräge eines von irgend welchen anderen Geisteseinflüssen un¬
berührten Keimes trägt. Nibelungen und Parzival, wenn auch der Zeit nach
vielleicht ebenso alt wie die meisten der durch absichtliche und unabsichtliche
Fiction größtenteils viel zu alt ausgegebenen Lieder der Edda in ihrer letzten
uns überlieferten Gestaltung, sind schon erfüllt von einer damals fast tausend¬
jährigen angestrengten Arbeit des deutschen Geistes, sich alle möglichen Cultur¬
elemente der Vergangenheit, specifisch christliche, antik und mittelalterlich orien¬
talische, griechisch-römische in ihrer kosmopolitischen Umschmelzung in und durch
das orientalische Element des Christenthums, anzueignen und zu lebendigen
Bestandtheilen seines eigenen Wesens zu verwandeln. Dieser ungeheure Amal-
gamationsprozeß, dieser Universalismus der Bildungsgeschichte des deutschen
Geistes hat alle und jede Erzeugnisse ergriffen und giebt auch demjenigen von
ihnen, die wie jene erwähnten und die andern ihres gleichen, nur einen be¬
stimmten Durchschnitt in diesem rastlos vorwärts schreitenden Proceß darstellen,
doch noch auch für eine spätere Zeit eine bedingte Verständlichkeit und Zu-


Grenzboten III. 1872. 12

dieser Seite her, wie es Simrock versucht, das Gewissen schärfen wollte. Selbst
wenn es begriffen hat, daß diese altnordische poetische Welt unter gewissen Voraus¬
setzungen einstmals in einer grauen Vergangenheit ein Stück seines eigenen
Wesens war, würde es, so hoffen wir von seinem Ehrgefühl, wohl einige Hoch¬
achtung dafür empfinden, aber sie nichts desto weniger ungenießbar und unver¬
ständlich finden. Es gehört zu den größten Tugenden der deutschen Art, daß
sie sich niemals zu irgend welchen sogenannten besten Zwecken etwas vorlügt,
oder vorlügen läßt, woran Gefühl und Verstand keinen Theil haben. Wir
Deutschen sind ein für allemal für die Jesuitenmoral, auch für die patriotische
verdorben und wollen in allen Stücken, auch wo es nationales Interesse gilt,
ehrlich und gewissenhaft sein und bleiben. Anderwärts ließe sich ein solcher
patriotischer Humbug recht wohl denken und in Scandinavien, besonders in
Kopenhagen, ist er wirklich bis zu einem gewissen Erfolge für die Edda sammt
Anhängseln in Scene gesetzt worden und thätig. Denn auch dort müßte ein
Publicum, das in den Gebilden der modernen Poesie in der kosmopolitischsten
Bedeutung des Wortes aufgewachsen ist, sich von den Abstrusitäten und Ab¬
sonderlichkeiten der altnordischen Muse ebenso frostig berührt finden, wie es
unserm deutschen Publicum geschieht. Aber da man dort schon längst von Ge¬
wissen und Ehrlichkeit in allen den Fragen zu abstrahiren sich gewöhnt hat,
bei denen das nationale Selbstbewußtsein betheiligt ist, so muß sich auch das
ästhetische Gefühl durch die Tendenz terrorisiren lassen.

Denn man glaube nur nicht, daß die Edda und ihre poetischen Verwandten
eine ähnliche Stellung zu dem nordischen Geistesleben von heute einnehmen,
wie die Nibelungen oder der Parzival zu unserer Gegenwart. Denn alt¬
nordische Poesie ist durch und durch ein selbstwüchsiges Erzeugniß, welches das
ausschließliche Gepräge eines von irgend welchen anderen Geisteseinflüssen un¬
berührten Keimes trägt. Nibelungen und Parzival, wenn auch der Zeit nach
vielleicht ebenso alt wie die meisten der durch absichtliche und unabsichtliche
Fiction größtenteils viel zu alt ausgegebenen Lieder der Edda in ihrer letzten
uns überlieferten Gestaltung, sind schon erfüllt von einer damals fast tausend¬
jährigen angestrengten Arbeit des deutschen Geistes, sich alle möglichen Cultur¬
elemente der Vergangenheit, specifisch christliche, antik und mittelalterlich orien¬
talische, griechisch-römische in ihrer kosmopolitischen Umschmelzung in und durch
das orientalische Element des Christenthums, anzueignen und zu lebendigen
Bestandtheilen seines eigenen Wesens zu verwandeln. Dieser ungeheure Amal-
gamationsprozeß, dieser Universalismus der Bildungsgeschichte des deutschen
Geistes hat alle und jede Erzeugnisse ergriffen und giebt auch demjenigen von
ihnen, die wie jene erwähnten und die andern ihres gleichen, nur einen be¬
stimmten Durchschnitt in diesem rastlos vorwärts schreitenden Proceß darstellen,
doch noch auch für eine spätere Zeit eine bedingte Verständlichkeit und Zu-


Grenzboten III. 1872. 12
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[0097] dieser Seite her, wie es Simrock versucht, das Gewissen schärfen wollte. Selbst wenn es begriffen hat, daß diese altnordische poetische Welt unter gewissen Voraus¬ setzungen einstmals in einer grauen Vergangenheit ein Stück seines eigenen Wesens war, würde es, so hoffen wir von seinem Ehrgefühl, wohl einige Hoch¬ achtung dafür empfinden, aber sie nichts desto weniger ungenießbar und unver¬ ständlich finden. Es gehört zu den größten Tugenden der deutschen Art, daß sie sich niemals zu irgend welchen sogenannten besten Zwecken etwas vorlügt, oder vorlügen läßt, woran Gefühl und Verstand keinen Theil haben. Wir Deutschen sind ein für allemal für die Jesuitenmoral, auch für die patriotische verdorben und wollen in allen Stücken, auch wo es nationales Interesse gilt, ehrlich und gewissenhaft sein und bleiben. Anderwärts ließe sich ein solcher patriotischer Humbug recht wohl denken und in Scandinavien, besonders in Kopenhagen, ist er wirklich bis zu einem gewissen Erfolge für die Edda sammt Anhängseln in Scene gesetzt worden und thätig. Denn auch dort müßte ein Publicum, das in den Gebilden der modernen Poesie in der kosmopolitischsten Bedeutung des Wortes aufgewachsen ist, sich von den Abstrusitäten und Ab¬ sonderlichkeiten der altnordischen Muse ebenso frostig berührt finden, wie es unserm deutschen Publicum geschieht. Aber da man dort schon längst von Ge¬ wissen und Ehrlichkeit in allen den Fragen zu abstrahiren sich gewöhnt hat, bei denen das nationale Selbstbewußtsein betheiligt ist, so muß sich auch das ästhetische Gefühl durch die Tendenz terrorisiren lassen. Denn man glaube nur nicht, daß die Edda und ihre poetischen Verwandten eine ähnliche Stellung zu dem nordischen Geistesleben von heute einnehmen, wie die Nibelungen oder der Parzival zu unserer Gegenwart. Denn alt¬ nordische Poesie ist durch und durch ein selbstwüchsiges Erzeugniß, welches das ausschließliche Gepräge eines von irgend welchen anderen Geisteseinflüssen un¬ berührten Keimes trägt. Nibelungen und Parzival, wenn auch der Zeit nach vielleicht ebenso alt wie die meisten der durch absichtliche und unabsichtliche Fiction größtenteils viel zu alt ausgegebenen Lieder der Edda in ihrer letzten uns überlieferten Gestaltung, sind schon erfüllt von einer damals fast tausend¬ jährigen angestrengten Arbeit des deutschen Geistes, sich alle möglichen Cultur¬ elemente der Vergangenheit, specifisch christliche, antik und mittelalterlich orien¬ talische, griechisch-römische in ihrer kosmopolitischen Umschmelzung in und durch das orientalische Element des Christenthums, anzueignen und zu lebendigen Bestandtheilen seines eigenen Wesens zu verwandeln. Dieser ungeheure Amal- gamationsprozeß, dieser Universalismus der Bildungsgeschichte des deutschen Geistes hat alle und jede Erzeugnisse ergriffen und giebt auch demjenigen von ihnen, die wie jene erwähnten und die andern ihres gleichen, nur einen be¬ stimmten Durchschnitt in diesem rastlos vorwärts schreitenden Proceß darstellen, doch noch auch für eine spätere Zeit eine bedingte Verständlichkeit und Zu- Grenzboten III. 1872. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/97>, abgerufen am 22.12.2024.