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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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gnomie der Stadt, sondern auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit, die sich
nun einmal regelt nach dem, was man ihr ansinnt.

Auf keinem Gebiete tritt uns schärfer vor die Seele, unter welch' heißen
Mühen, schweren Kämpfen das Vorwärts angestrebt wurde, als in dem
Schul- und Unterrichtswesen. Als Goethe 1773 in Weimar eintrat,
fand er ein Gymnasium, der Schülerzahl nach in vollem Flor. Aber bei
näherer Besichtigung war es gelehrte Schule, Bildungs-Anstalt für Volks¬
lehrer, und Volksschule in unserm Sinne zugleich. Nebenher liefen Kinder,
die je nach Einsicht der Eltern keine Schule besuchten, oder von Schülern
oder einem alten 60 jährigen Stockmeister unterrichtet wurden. Goethe hatte
einmal eine Anwandlung, an diesem Punkte einzusetzen; er sorgte für die
Kinder alter Soldaten durch Gründung einer Nah-, Strick- und Spinnschule;
ihm mochte wohl nahe liegen, die Misere der untern Classen mehr durch den
Broderwerb nach der Schule, als durch die zunächst zu erstrebende elementare
Bildung sicher zu stellen. Ist es rührend, wie ein genialer Geist in die
kümmerlichen Volksschulverhältnisse der damaligen Zeit hinabstieg,
und mit praktischen ihm fernliegenden Fragen sich vertraut zu machen suchte,
wie er, der bekannt oder unbekannt selbst den Rocken spann, sein Spinnbüch¬
lein entwarf, so können wir ihm doch nicht den Preis des Verdienstes um
Weimars Culturleben in dieser Beziehung zuerkennen. Der ewig für uns
verdienstvolle Herder war es, der schärfer einsetzte, Volksbildung von gelehrter
trennte und den Keim pflanzte, dessen Gedeihen noch heute fortwährender
Fürsorge empfohlen ist. Sein Schullehrerseminar, seine Bestrebungen für den
Volksunterricht stehen in segensreichem Andenken, wenn auch die Zeit, der er
angehörte, nicht immer und namentlich in den höhern Ständen, ein volles
Verständniß für seine Schöpfung, für das Aufbauen von unten, beurkundet.
Denn Volksbildung war in Weimar bei Vielen verhaßt, man fand hier wie
im übrigen Deutschland thörichterweise mit einer verbesserten Elementarbildung
auch die Gefahr der Jnsizirung mit den Ideen des revolutionären Frank¬
reich gesteigert, bis dann die schwere Züchtigung und Prüfung an unser Vater¬
land herantrat und die Furcht vor dem rothen Gespenst allmählig zu weichen
begann.

Als Herder die Augen schloß, hatte er nicht erreicht, was er gewollt. In
seinem Geiste baute man aber weiter. Die Regierung suchte unsere Voreltern
zu überzeugen, wie dringend nöthig der Schulbesuch sei. Denn es gab im
Beginn des Jahrhunderts viele Mütter, die die Schule nie gesehen hatten,
Knaben wurden confirmirt, ohne jede Kenntniß des Schreibens, Lesens und
Rechnens; 1807 unterrichtete noch in Weimar ein Tagelöhner mehr als 40
Kinder, und in den unterdessen gebildeten Volksschulen glaubte man das
Schulgeld deßhalb erhöhen zu müssen, weil ein Zimmer mehr geheizt werden


gnomie der Stadt, sondern auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit, die sich
nun einmal regelt nach dem, was man ihr ansinnt.

Auf keinem Gebiete tritt uns schärfer vor die Seele, unter welch' heißen
Mühen, schweren Kämpfen das Vorwärts angestrebt wurde, als in dem
Schul- und Unterrichtswesen. Als Goethe 1773 in Weimar eintrat,
fand er ein Gymnasium, der Schülerzahl nach in vollem Flor. Aber bei
näherer Besichtigung war es gelehrte Schule, Bildungs-Anstalt für Volks¬
lehrer, und Volksschule in unserm Sinne zugleich. Nebenher liefen Kinder,
die je nach Einsicht der Eltern keine Schule besuchten, oder von Schülern
oder einem alten 60 jährigen Stockmeister unterrichtet wurden. Goethe hatte
einmal eine Anwandlung, an diesem Punkte einzusetzen; er sorgte für die
Kinder alter Soldaten durch Gründung einer Nah-, Strick- und Spinnschule;
ihm mochte wohl nahe liegen, die Misere der untern Classen mehr durch den
Broderwerb nach der Schule, als durch die zunächst zu erstrebende elementare
Bildung sicher zu stellen. Ist es rührend, wie ein genialer Geist in die
kümmerlichen Volksschulverhältnisse der damaligen Zeit hinabstieg,
und mit praktischen ihm fernliegenden Fragen sich vertraut zu machen suchte,
wie er, der bekannt oder unbekannt selbst den Rocken spann, sein Spinnbüch¬
lein entwarf, so können wir ihm doch nicht den Preis des Verdienstes um
Weimars Culturleben in dieser Beziehung zuerkennen. Der ewig für uns
verdienstvolle Herder war es, der schärfer einsetzte, Volksbildung von gelehrter
trennte und den Keim pflanzte, dessen Gedeihen noch heute fortwährender
Fürsorge empfohlen ist. Sein Schullehrerseminar, seine Bestrebungen für den
Volksunterricht stehen in segensreichem Andenken, wenn auch die Zeit, der er
angehörte, nicht immer und namentlich in den höhern Ständen, ein volles
Verständniß für seine Schöpfung, für das Aufbauen von unten, beurkundet.
Denn Volksbildung war in Weimar bei Vielen verhaßt, man fand hier wie
im übrigen Deutschland thörichterweise mit einer verbesserten Elementarbildung
auch die Gefahr der Jnsizirung mit den Ideen des revolutionären Frank¬
reich gesteigert, bis dann die schwere Züchtigung und Prüfung an unser Vater¬
land herantrat und die Furcht vor dem rothen Gespenst allmählig zu weichen
begann.

Als Herder die Augen schloß, hatte er nicht erreicht, was er gewollt. In
seinem Geiste baute man aber weiter. Die Regierung suchte unsere Voreltern
zu überzeugen, wie dringend nöthig der Schulbesuch sei. Denn es gab im
Beginn des Jahrhunderts viele Mütter, die die Schule nie gesehen hatten,
Knaben wurden confirmirt, ohne jede Kenntniß des Schreibens, Lesens und
Rechnens; 1807 unterrichtete noch in Weimar ein Tagelöhner mehr als 40
Kinder, und in den unterdessen gebildeten Volksschulen glaubte man das
Schulgeld deßhalb erhöhen zu müssen, weil ein Zimmer mehr geheizt werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/64>, abgerufen am 22.07.2024.