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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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könne, und die Kirche, daß der Staat ihrer nicht bedürfe und keine Eingriffe
in ihre Angelegenheiten machen würde. Das veranlaßt ihn aber nicht, eine
gewaltsame Lösung des Bandes zu befürworten, das gegenwärtig beide Ord¬
nungen umfaßt. Im Gegentheil fordert er die größte Mäßigung und Be¬
sonnenheit. Schon deshalb, damit die Kirche nicht in den Zustand der Dürf¬
tigkeit gerathe. Denn der Protestantismus setzt ein gewisses Maß allgemeiner
geistiger Entwicklung voraus, welches nur erreicht werden kann, wenn ein
äußerer Wohlstand und eine Freiheit von Nahrungssorgen vorhanden ist.
Deshalb bekennt er sich zu der Formel: daß die Kirche sich durchwinden muß
zwischen der kraftlosen Unabhängigkeit und kraftgewährenden, aber in der
Entwicklung hindernden Dienstbarkeit. Je mehr sie hinreichende Mittel besitzt,
desto leichter wird sie die Form eines unabhängigen Kirchenregiments annehmen
können; aber wo das nicht der Fall ist, da kann es leicht sein, daß es keine
andere umsichtige Behandlung der Sache giebt, als daß die Kirche eine Zeit
lang bei den Verhältnissen dieser Art durch die Abhängigkeit*) und Dienstbar¬
keit unter dem Staat hindurchgeht, bis sie auf eignen Füßen stehen kann.
Natürlich will er auch bei der völligster Unabhängigkeit der Kirche vom
Staate diesem nicht das Aufsichtsrecht entzogen wissen, das ihm über alle
Gemeinschaften innerhalb seiner Grenzen zusteht. Er-sagt ausdrücklich**): das
^'u8 eiros. saer". kommt dem Fürsten als solchem zu, ist aber nur negativ und
besteht darin, daß er alle Anordnungen verbieten kann, die ihm nachtheilig
für den Staat erscheinen. Schleiermacher hat nicht immer eine völlige Los¬
lösung des Bandes zwischen Staat und Kirche gefordert. Wir dürfen wohl
annehmen, daß erst der Agendenstreit sie ihm nahe gelegt und wünschens¬
wert!) hat erscheinen lassen. Wenigstens in der Schrift: Ueber die Synodal-
verfasfung von 1817***) erklärter: Sagte sich der Staat ganz los von allem,
was auf den Glauben und die Frömmigkeit Bezug hat: dann wäre der ur¬
sprüngliche Zustand wieder hergestellt, und der in den Gemüthern der Gläu¬
bigen waltende Geist würde dann schon sich eine Form gestalten, wie er es
in der Urzeit des Christenthums, wie er es immer, wo eine alte Form ab¬
gestorben und zerfallen war, gethan hat. Gott bewahre den Staat
und die Kirche vor einem solchen Rückschritt; aber zweifelt jemand,
daß wenn der Staat die von ihm beschützten und geleiteten protestantischen
Christengemeinden in ihrem ganzen Zusammenhange auflöste, sie doch wieder
entstehen und auch bald wieder zu einem größeren Ganzen zusammenwachsen
würden? Wer das bezweifelt, der muß überhaupt nicht an den Geist des





") Pratt. Theil S. 670 steht- Unabhängigkeit, offenbar ein Schreibfehler im Manuscript
oder ein "versehener Druckfehler.
Ueber das liturgische Recht a. a. O. S.
a. a. O. S. 48.

könne, und die Kirche, daß der Staat ihrer nicht bedürfe und keine Eingriffe
in ihre Angelegenheiten machen würde. Das veranlaßt ihn aber nicht, eine
gewaltsame Lösung des Bandes zu befürworten, das gegenwärtig beide Ord¬
nungen umfaßt. Im Gegentheil fordert er die größte Mäßigung und Be¬
sonnenheit. Schon deshalb, damit die Kirche nicht in den Zustand der Dürf¬
tigkeit gerathe. Denn der Protestantismus setzt ein gewisses Maß allgemeiner
geistiger Entwicklung voraus, welches nur erreicht werden kann, wenn ein
äußerer Wohlstand und eine Freiheit von Nahrungssorgen vorhanden ist.
Deshalb bekennt er sich zu der Formel: daß die Kirche sich durchwinden muß
zwischen der kraftlosen Unabhängigkeit und kraftgewährenden, aber in der
Entwicklung hindernden Dienstbarkeit. Je mehr sie hinreichende Mittel besitzt,
desto leichter wird sie die Form eines unabhängigen Kirchenregiments annehmen
können; aber wo das nicht der Fall ist, da kann es leicht sein, daß es keine
andere umsichtige Behandlung der Sache giebt, als daß die Kirche eine Zeit
lang bei den Verhältnissen dieser Art durch die Abhängigkeit*) und Dienstbar¬
keit unter dem Staat hindurchgeht, bis sie auf eignen Füßen stehen kann.
Natürlich will er auch bei der völligster Unabhängigkeit der Kirche vom
Staate diesem nicht das Aufsichtsrecht entzogen wissen, das ihm über alle
Gemeinschaften innerhalb seiner Grenzen zusteht. Er-sagt ausdrücklich**): das
^'u8 eiros. saer». kommt dem Fürsten als solchem zu, ist aber nur negativ und
besteht darin, daß er alle Anordnungen verbieten kann, die ihm nachtheilig
für den Staat erscheinen. Schleiermacher hat nicht immer eine völlige Los¬
lösung des Bandes zwischen Staat und Kirche gefordert. Wir dürfen wohl
annehmen, daß erst der Agendenstreit sie ihm nahe gelegt und wünschens¬
wert!) hat erscheinen lassen. Wenigstens in der Schrift: Ueber die Synodal-
verfasfung von 1817***) erklärter: Sagte sich der Staat ganz los von allem,
was auf den Glauben und die Frömmigkeit Bezug hat: dann wäre der ur¬
sprüngliche Zustand wieder hergestellt, und der in den Gemüthern der Gläu¬
bigen waltende Geist würde dann schon sich eine Form gestalten, wie er es
in der Urzeit des Christenthums, wie er es immer, wo eine alte Form ab¬
gestorben und zerfallen war, gethan hat. Gott bewahre den Staat
und die Kirche vor einem solchen Rückschritt; aber zweifelt jemand,
daß wenn der Staat die von ihm beschützten und geleiteten protestantischen
Christengemeinden in ihrem ganzen Zusammenhange auflöste, sie doch wieder
entstehen und auch bald wieder zu einem größeren Ganzen zusammenwachsen
würden? Wer das bezweifelt, der muß überhaupt nicht an den Geist des





") Pratt. Theil S. 670 steht- Unabhängigkeit, offenbar ein Schreibfehler im Manuscript
oder ein »versehener Druckfehler.
Ueber das liturgische Recht a. a. O. S.
a. a. O. S. 48.
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[0494] könne, und die Kirche, daß der Staat ihrer nicht bedürfe und keine Eingriffe in ihre Angelegenheiten machen würde. Das veranlaßt ihn aber nicht, eine gewaltsame Lösung des Bandes zu befürworten, das gegenwärtig beide Ord¬ nungen umfaßt. Im Gegentheil fordert er die größte Mäßigung und Be¬ sonnenheit. Schon deshalb, damit die Kirche nicht in den Zustand der Dürf¬ tigkeit gerathe. Denn der Protestantismus setzt ein gewisses Maß allgemeiner geistiger Entwicklung voraus, welches nur erreicht werden kann, wenn ein äußerer Wohlstand und eine Freiheit von Nahrungssorgen vorhanden ist. Deshalb bekennt er sich zu der Formel: daß die Kirche sich durchwinden muß zwischen der kraftlosen Unabhängigkeit und kraftgewährenden, aber in der Entwicklung hindernden Dienstbarkeit. Je mehr sie hinreichende Mittel besitzt, desto leichter wird sie die Form eines unabhängigen Kirchenregiments annehmen können; aber wo das nicht der Fall ist, da kann es leicht sein, daß es keine andere umsichtige Behandlung der Sache giebt, als daß die Kirche eine Zeit lang bei den Verhältnissen dieser Art durch die Abhängigkeit*) und Dienstbar¬ keit unter dem Staat hindurchgeht, bis sie auf eignen Füßen stehen kann. Natürlich will er auch bei der völligster Unabhängigkeit der Kirche vom Staate diesem nicht das Aufsichtsrecht entzogen wissen, das ihm über alle Gemeinschaften innerhalb seiner Grenzen zusteht. Er-sagt ausdrücklich**): das ^'u8 eiros. saer». kommt dem Fürsten als solchem zu, ist aber nur negativ und besteht darin, daß er alle Anordnungen verbieten kann, die ihm nachtheilig für den Staat erscheinen. Schleiermacher hat nicht immer eine völlige Los¬ lösung des Bandes zwischen Staat und Kirche gefordert. Wir dürfen wohl annehmen, daß erst der Agendenstreit sie ihm nahe gelegt und wünschens¬ wert!) hat erscheinen lassen. Wenigstens in der Schrift: Ueber die Synodal- verfasfung von 1817***) erklärter: Sagte sich der Staat ganz los von allem, was auf den Glauben und die Frömmigkeit Bezug hat: dann wäre der ur¬ sprüngliche Zustand wieder hergestellt, und der in den Gemüthern der Gläu¬ bigen waltende Geist würde dann schon sich eine Form gestalten, wie er es in der Urzeit des Christenthums, wie er es immer, wo eine alte Form ab¬ gestorben und zerfallen war, gethan hat. Gott bewahre den Staat und die Kirche vor einem solchen Rückschritt; aber zweifelt jemand, daß wenn der Staat die von ihm beschützten und geleiteten protestantischen Christengemeinden in ihrem ganzen Zusammenhange auflöste, sie doch wieder entstehen und auch bald wieder zu einem größeren Ganzen zusammenwachsen würden? Wer das bezweifelt, der muß überhaupt nicht an den Geist des ") Pratt. Theil S. 670 steht- Unabhängigkeit, offenbar ein Schreibfehler im Manuscript oder ein »versehener Druckfehler. Ueber das liturgische Recht a. a. O. S. a. a. O. S. 48.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/494>, abgerufen am 23.07.2024.