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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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was wir wollen, hinzutreiben, daß es uns, ob die Frömmigkeit auch ein
Motiv dazu enthält, ziemlich gleichgültig sein kann. Er kann aber auch er¬
klären : die Frömmigkeit ist jedenfalls eine Function der Intelligenz, sie dringt
auf die Unterordnung der sinnlichen Motive und giebt den Menschen Kraft
diesen zu widerstehen, und dieses ist auf jeden Fall ein Gut für den Staat.
Je mehr aber der Staat aus dem Standpuncte des Eigenthums steht und
nur eine Organisation der Selbstliebe ist, um desto mehr muß er grade seine
Stärke in sinnliche Motive setzen, und da muß er allerdings sagen, daß in
gewissen Fällen die Frömmigkeit ihm nachtheilig sei. Welche Maxime ist nun
die richtige? Glaubt der Staat die Frömmigkeit entbehren zu können, weil
er sich durch sinnliche Motive gesichert glaubt, so ist dies kein Zeichen von
Vollkommenheit im Staat; glaubt er aber vollkommen gesichert zu sein durch
die herrschende Kraft intellectueller Motive, bei welchen sich aber die Frömmig¬
keit entbehren läßt, so ist das auch der vollkommenste Zustand für den Staat.
Er verläßt sich auf die Herrschaft der reinen Sittlichkeit in der Masse, auf
den Gemeingeist. Aber die Erfahrung zeigt, daß auf diesem Wege die Ge¬
sittung langsam vorwärts geht, deshalb will der Staat den Gemeinsinn durch
die Verbindung mit andern geistigen Elementen stärken. Das ist der Grund
des Interesses, welches der Staat an der Kirche und Religion hat, und wirk¬
lich stärkt den Staat nichts so als die Religion. Daher das allgemeine Prin¬
cip der Staaten: Es soll jeder, der im Staate leben will, zu irgend einer
religiösen Gemeinschaft gehören. Dies ist ein Princip der Intoleranz und
des Jndifferentismus, denn es ist gleich, in welcher Religion einer sei. So¬
wie der Einzelne das Alter der freien Disposition erreicht, so muß er nach¬
weisen in einer kirchlichen Gemeinschaft zu sein, und er muß sich also früh
entscheiden. Also das ärgerliche Bedürfniß übereilt die religiöse Entwicklung
und Entscheidung, oder es bleibt dem Einzelnen vieles im Staate verschlossen.
Schon dieses Princip führt eine Dienstbarkeit der Kirche mit sich; freilich ist
sie ehrenvoll, wegen des Vertrauens, aber sehr aufdrängend. Soll nun die
Kirche dem Staat sagen: Du hast nicht nöthig dich auf die Religion zu
verlassen? Vielmehr wird sie erklären: Auch ohne Zwang werde die Zahl
derer, die zu keiner religiösen Gemeinschaft gehören, immer sehr klein sein.
Um dies zu bewirken, müßten alle Kirchengemeinschaften durch Leben und
Geist so anziehen, daß keiner zu finden wäre, der sich nicht einer anschlösse.
Sieht der Staat dann, daß das religiöse Princip in ihm im Wachsen ist, so
kann man ihm erst das Bewußtsein einflößen und das Vertrauen, daß alle
zu einer Kirchengemeinschaft gehören werden, auch ohne Zwang. Als Ziel
glaubt daher Schleiermacher die völlige Unabhängigkeit des Staates von der
Kirche und der Kirche von dem Staate ansehen zu müssen, den Zustand, in
welchem jeder Theil sicher ist, der Staat, daß die Kirche sich selbst regieren


was wir wollen, hinzutreiben, daß es uns, ob die Frömmigkeit auch ein
Motiv dazu enthält, ziemlich gleichgültig sein kann. Er kann aber auch er¬
klären : die Frömmigkeit ist jedenfalls eine Function der Intelligenz, sie dringt
auf die Unterordnung der sinnlichen Motive und giebt den Menschen Kraft
diesen zu widerstehen, und dieses ist auf jeden Fall ein Gut für den Staat.
Je mehr aber der Staat aus dem Standpuncte des Eigenthums steht und
nur eine Organisation der Selbstliebe ist, um desto mehr muß er grade seine
Stärke in sinnliche Motive setzen, und da muß er allerdings sagen, daß in
gewissen Fällen die Frömmigkeit ihm nachtheilig sei. Welche Maxime ist nun
die richtige? Glaubt der Staat die Frömmigkeit entbehren zu können, weil
er sich durch sinnliche Motive gesichert glaubt, so ist dies kein Zeichen von
Vollkommenheit im Staat; glaubt er aber vollkommen gesichert zu sein durch
die herrschende Kraft intellectueller Motive, bei welchen sich aber die Frömmig¬
keit entbehren läßt, so ist das auch der vollkommenste Zustand für den Staat.
Er verläßt sich auf die Herrschaft der reinen Sittlichkeit in der Masse, auf
den Gemeingeist. Aber die Erfahrung zeigt, daß auf diesem Wege die Ge¬
sittung langsam vorwärts geht, deshalb will der Staat den Gemeinsinn durch
die Verbindung mit andern geistigen Elementen stärken. Das ist der Grund
des Interesses, welches der Staat an der Kirche und Religion hat, und wirk¬
lich stärkt den Staat nichts so als die Religion. Daher das allgemeine Prin¬
cip der Staaten: Es soll jeder, der im Staate leben will, zu irgend einer
religiösen Gemeinschaft gehören. Dies ist ein Princip der Intoleranz und
des Jndifferentismus, denn es ist gleich, in welcher Religion einer sei. So¬
wie der Einzelne das Alter der freien Disposition erreicht, so muß er nach¬
weisen in einer kirchlichen Gemeinschaft zu sein, und er muß sich also früh
entscheiden. Also das ärgerliche Bedürfniß übereilt die religiöse Entwicklung
und Entscheidung, oder es bleibt dem Einzelnen vieles im Staate verschlossen.
Schon dieses Princip führt eine Dienstbarkeit der Kirche mit sich; freilich ist
sie ehrenvoll, wegen des Vertrauens, aber sehr aufdrängend. Soll nun die
Kirche dem Staat sagen: Du hast nicht nöthig dich auf die Religion zu
verlassen? Vielmehr wird sie erklären: Auch ohne Zwang werde die Zahl
derer, die zu keiner religiösen Gemeinschaft gehören, immer sehr klein sein.
Um dies zu bewirken, müßten alle Kirchengemeinschaften durch Leben und
Geist so anziehen, daß keiner zu finden wäre, der sich nicht einer anschlösse.
Sieht der Staat dann, daß das religiöse Princip in ihm im Wachsen ist, so
kann man ihm erst das Bewußtsein einflößen und das Vertrauen, daß alle
zu einer Kirchengemeinschaft gehören werden, auch ohne Zwang. Als Ziel
glaubt daher Schleiermacher die völlige Unabhängigkeit des Staates von der
Kirche und der Kirche von dem Staate ansehen zu müssen, den Zustand, in
welchem jeder Theil sicher ist, der Staat, daß die Kirche sich selbst regieren


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[0493] was wir wollen, hinzutreiben, daß es uns, ob die Frömmigkeit auch ein Motiv dazu enthält, ziemlich gleichgültig sein kann. Er kann aber auch er¬ klären : die Frömmigkeit ist jedenfalls eine Function der Intelligenz, sie dringt auf die Unterordnung der sinnlichen Motive und giebt den Menschen Kraft diesen zu widerstehen, und dieses ist auf jeden Fall ein Gut für den Staat. Je mehr aber der Staat aus dem Standpuncte des Eigenthums steht und nur eine Organisation der Selbstliebe ist, um desto mehr muß er grade seine Stärke in sinnliche Motive setzen, und da muß er allerdings sagen, daß in gewissen Fällen die Frömmigkeit ihm nachtheilig sei. Welche Maxime ist nun die richtige? Glaubt der Staat die Frömmigkeit entbehren zu können, weil er sich durch sinnliche Motive gesichert glaubt, so ist dies kein Zeichen von Vollkommenheit im Staat; glaubt er aber vollkommen gesichert zu sein durch die herrschende Kraft intellectueller Motive, bei welchen sich aber die Frömmig¬ keit entbehren läßt, so ist das auch der vollkommenste Zustand für den Staat. Er verläßt sich auf die Herrschaft der reinen Sittlichkeit in der Masse, auf den Gemeingeist. Aber die Erfahrung zeigt, daß auf diesem Wege die Ge¬ sittung langsam vorwärts geht, deshalb will der Staat den Gemeinsinn durch die Verbindung mit andern geistigen Elementen stärken. Das ist der Grund des Interesses, welches der Staat an der Kirche und Religion hat, und wirk¬ lich stärkt den Staat nichts so als die Religion. Daher das allgemeine Prin¬ cip der Staaten: Es soll jeder, der im Staate leben will, zu irgend einer religiösen Gemeinschaft gehören. Dies ist ein Princip der Intoleranz und des Jndifferentismus, denn es ist gleich, in welcher Religion einer sei. So¬ wie der Einzelne das Alter der freien Disposition erreicht, so muß er nach¬ weisen in einer kirchlichen Gemeinschaft zu sein, und er muß sich also früh entscheiden. Also das ärgerliche Bedürfniß übereilt die religiöse Entwicklung und Entscheidung, oder es bleibt dem Einzelnen vieles im Staate verschlossen. Schon dieses Princip führt eine Dienstbarkeit der Kirche mit sich; freilich ist sie ehrenvoll, wegen des Vertrauens, aber sehr aufdrängend. Soll nun die Kirche dem Staat sagen: Du hast nicht nöthig dich auf die Religion zu verlassen? Vielmehr wird sie erklären: Auch ohne Zwang werde die Zahl derer, die zu keiner religiösen Gemeinschaft gehören, immer sehr klein sein. Um dies zu bewirken, müßten alle Kirchengemeinschaften durch Leben und Geist so anziehen, daß keiner zu finden wäre, der sich nicht einer anschlösse. Sieht der Staat dann, daß das religiöse Princip in ihm im Wachsen ist, so kann man ihm erst das Bewußtsein einflößen und das Vertrauen, daß alle zu einer Kirchengemeinschaft gehören werden, auch ohne Zwang. Als Ziel glaubt daher Schleiermacher die völlige Unabhängigkeit des Staates von der Kirche und der Kirche von dem Staate ansehen zu müssen, den Zustand, in welchem jeder Theil sicher ist, der Staat, daß die Kirche sich selbst regieren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/493>, abgerufen am 23.07.2024.