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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Niemand vermag zu sagen, ob die geheimen Besorgnisse der französischen
Politiker, welche sich in den verschiedenen Erfindungen von Congressen?c.
ausdrücken, begründet sind. Denn bis zur Stunde, wo diese Zeilen geschrieben
werden, weiß Niemand, ob eine feierliche Bekräftigung der politischen Ein-
theilung Europas durch die in Berlin vereinigten Monarchen jemals beab¬
sichtigt worden. Eine gewisse Bekräftigung liegt in der Zusammenkunft selbst.
Das fühlen die Franzosen, und das erbittert sie. Ob die Frucht aber einen
noch herberen Geschmack sür das rachedürstende Frankreich annehmen wird,
ist das Geheimniß der nächsten oder übernächsten Woche. So kurz vor dem
Ereigniß wäre prophezeien am mißlichsten, aber angemerkt darf werden, daß
gewiegte Beurtheiler keinerlei formale Kundgebungen erwarten.




Nachschrift.

In dem vorstehenden Brief ist die gemeinsame Connivenz Oestreichs wie
Rußlands gegen die Emancipationsbestrebungen der christlichen Bevölkerungen
der Türkei vorausgesetzt. Nun meldet ein gestriges, allerdings noch
der Bestätigung bedürftiges Telegramm von einem Circularschreiben An-
drassy's, welches die Uebereinstimmung Rußlands mit Oestreich in Bezug
auf die Erhaltung der Türkei constatiren soll. Die Beweiskraft solcher
diplomatischen Kundgebungen, die Echtheit der in Rede stehenden vorausgesetzt,
ist selbstverständlich eine bedingte. Eine kühlere Haltung der östreichisch-ungarischen
Regierung gegen Serbien, als den Hauptträger der christlichen Emancipations¬
bestrebungen auf der Balkanhalbinsel, war schon vor und bei der Thron¬
besteigung des jungen Fürsten Milan zu constatiren. Es liegt dennoch kein
Grund zu der Annahme vor, daß Oestreich in die alte Politik unbedingter
Erhaltung der Türkei gegenüber einlenken werde, wie bestimmt auch die des-
fallsigen Ausdrücke des Grafen Andrassy zu lauten scheinen. Die neuerliche
Haltung Oestreich-Ungarns kann leicht nur darauf berechnet sein, den Süd¬
slaven bemerklich zu machen, daß es unklug ist, wenn sie ihre nationale
Expansion gegen die Türkei und Oestreich zugleich richten. Officiöse Stimmen
aus Oestreich heben denn auch hervor, daß die dortige Regierung bemüht
sei, die vorsichtige, den Verhältnissen Rechnung tragende Regierung des Fürsten
Milan zu stützen gegen die ultranationale Partei der Familie des Kara
Georgiewitsch. Rußland andererseits hat nicht minder Ursache, die ultra¬
nationalen Parteien mit mißtrauischem Auge zu betrachten. Der Zukunfts¬
traum eines großserbischen Reiches ist unverträglich mit dem Gedanken eines
russischen Protektorates über die christlichen Bevölkerungen der Balkanhalbinsel,
auf welches, abgesehen von dem Besitz Rumeliens mit Constantinopel, die
russischen Absichten in Betreff der europäischen Türkei hinauszulaufen scheinen.
So scheint jede sachliche Betrachtung der Verhältnisse in der europäischen
Türkei darauf hinzuführen, daß die russische und die östreichische Politik, wie
verschieden immer in ihren Endabsichten, vorläufig keinen Grund haben, sich
auf dem dortigen Terrain und um desselben willen zu befehden.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Haus Blum.
Verlag von F. L. Hervig. -- Druck von Hüthcl 6 Legler in Leipzig.

Niemand vermag zu sagen, ob die geheimen Besorgnisse der französischen
Politiker, welche sich in den verschiedenen Erfindungen von Congressen?c.
ausdrücken, begründet sind. Denn bis zur Stunde, wo diese Zeilen geschrieben
werden, weiß Niemand, ob eine feierliche Bekräftigung der politischen Ein-
theilung Europas durch die in Berlin vereinigten Monarchen jemals beab¬
sichtigt worden. Eine gewisse Bekräftigung liegt in der Zusammenkunft selbst.
Das fühlen die Franzosen, und das erbittert sie. Ob die Frucht aber einen
noch herberen Geschmack sür das rachedürstende Frankreich annehmen wird,
ist das Geheimniß der nächsten oder übernächsten Woche. So kurz vor dem
Ereigniß wäre prophezeien am mißlichsten, aber angemerkt darf werden, daß
gewiegte Beurtheiler keinerlei formale Kundgebungen erwarten.




Nachschrift.

In dem vorstehenden Brief ist die gemeinsame Connivenz Oestreichs wie
Rußlands gegen die Emancipationsbestrebungen der christlichen Bevölkerungen
der Türkei vorausgesetzt. Nun meldet ein gestriges, allerdings noch
der Bestätigung bedürftiges Telegramm von einem Circularschreiben An-
drassy's, welches die Uebereinstimmung Rußlands mit Oestreich in Bezug
auf die Erhaltung der Türkei constatiren soll. Die Beweiskraft solcher
diplomatischen Kundgebungen, die Echtheit der in Rede stehenden vorausgesetzt,
ist selbstverständlich eine bedingte. Eine kühlere Haltung der östreichisch-ungarischen
Regierung gegen Serbien, als den Hauptträger der christlichen Emancipations¬
bestrebungen auf der Balkanhalbinsel, war schon vor und bei der Thron¬
besteigung des jungen Fürsten Milan zu constatiren. Es liegt dennoch kein
Grund zu der Annahme vor, daß Oestreich in die alte Politik unbedingter
Erhaltung der Türkei gegenüber einlenken werde, wie bestimmt auch die des-
fallsigen Ausdrücke des Grafen Andrassy zu lauten scheinen. Die neuerliche
Haltung Oestreich-Ungarns kann leicht nur darauf berechnet sein, den Süd¬
slaven bemerklich zu machen, daß es unklug ist, wenn sie ihre nationale
Expansion gegen die Türkei und Oestreich zugleich richten. Officiöse Stimmen
aus Oestreich heben denn auch hervor, daß die dortige Regierung bemüht
sei, die vorsichtige, den Verhältnissen Rechnung tragende Regierung des Fürsten
Milan zu stützen gegen die ultranationale Partei der Familie des Kara
Georgiewitsch. Rußland andererseits hat nicht minder Ursache, die ultra¬
nationalen Parteien mit mißtrauischem Auge zu betrachten. Der Zukunfts¬
traum eines großserbischen Reiches ist unverträglich mit dem Gedanken eines
russischen Protektorates über die christlichen Bevölkerungen der Balkanhalbinsel,
auf welches, abgesehen von dem Besitz Rumeliens mit Constantinopel, die
russischen Absichten in Betreff der europäischen Türkei hinauszulaufen scheinen.
So scheint jede sachliche Betrachtung der Verhältnisse in der europäischen
Türkei darauf hinzuführen, daß die russische und die östreichische Politik, wie
verschieden immer in ihren Endabsichten, vorläufig keinen Grund haben, sich
auf dem dortigen Terrain und um desselben willen zu befehden.




Verantwortlicher Redacteur: Dr. Haus Blum.
Verlag von F. L. Hervig. — Druck von Hüthcl 6 Legler in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/440>, abgerufen am 22.07.2024.