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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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sich mit seinem Bestreben, das Anwachsen der russischen Macht zu hindern,
bei dem Einschlagen dieser Bahn. Unter dem Einfluß des bekannten Frei¬
herrn v. Prokesch-Osten. des langjährigen Botschafters Oestreichs in Constan-
tinopel, ist dann diese Politik fortgesetzt worden. Als Graf Beust den ent¬
gegengesetzten Versuch machte, sich etwas freundlich zu den christlichen, ins¬
besondere den slavischen Unterthanen der Pforte zu stellen, wurde er durch
besagten v. Prokesch-Osten in der "Allg. Ztg." leidenschaftlich abgekanzelt.
Gegenwärtig dürfte man in Wien den türkischen Verhältnissen gegenüber doch
wohl auf dem Standpunkt des Abwartens stehen. Man wird einsehen, daß
es gefährlich ist, den christlichen Unterthanen der Pforte nur im Lichte des
Feindes zu erscheinen, daß das nichts Anderes heißt, als diese Bevölkerungen
mit Gewalt in die Arme Rußlands treiben. Dennoch würden augenblicklich,
wie mit entgegengesetzten Absichten immer, Rusland und Oestreich in ihrem
Verhalten gegen die Türkei übereinstimmen. Nur daß Rußland ein wenig
mehr die christlichen Bevölkerungen antreibt, während Oestreich ihre Hoffnungen
nicht anfache, aber auch nichts mehr thut, dieselben zu unterdrücken. Gelingt
es den christlichen Bevölkerungen der europäischen Türkei, erfolgreiche Schritte
auf der Bahn ihrer Selbstständigkeit zu thun, so ist die Frage, ob mit der
schwindenden Furcht vor den Türken die Schutzherrlichkeit Rußlands nicht
anfängt eines Tages ihnen bedenklich zu werden.

Die orientalische Frage ist also augenblicklich kein Hinderniß für die
Herrscher Rußlands und Oestreichs, zu Gunsten des europäischen Friedens ihr
mächtiges Wort nachdrücklich einzulegen.

Man sagt: dem Ernst dieses Friedensbedürfnisses werde die glückliche
Lage der Polen in Galizien zum Opfer fallen müssen. Aber Rußland steht
im Begriff, einen neuen Aussöhnungsversuch mit seinen polnischen Unterthanen
zu machen. Das ist nicht der Moment, von der östreichisch-ungarischen
Monarchie Maßregeln der Unterdrückung gegen die Polen zu heischen.

Was man in Frankreich von der Septemberzusammenkunft fürchtet, mit
Jngrim fürchtet und mit Angst, das ist eine feierliche Bekräftigung der
jetzigen Territorialeintheilung Europas, eine Besiegelung derjenigen Karte
von Europa, welche an die Stelle der Karte des wiener Congresses getreten
ist. Was sollte Frankreich gegenüber einer solchen Bekräftigung thun, auch
wenn es nicht zur Theilnahme eingeladen würde? Sollte es seine Rechte auf
die Revanche, auf den Krieg, den es vorbereitet, auf die Rheingrenze, die es
mindestens zu erobern gedenkt, mit lauter Stimme geltend machen? Oder
sollte es einen feierlichen Akt der meisten großen Nationen des europäischen
Continents: Rußlands, Oestreich-Ungarns, Deutschlands, Italiens, schweigend
hinnehmen?


sich mit seinem Bestreben, das Anwachsen der russischen Macht zu hindern,
bei dem Einschlagen dieser Bahn. Unter dem Einfluß des bekannten Frei¬
herrn v. Prokesch-Osten. des langjährigen Botschafters Oestreichs in Constan-
tinopel, ist dann diese Politik fortgesetzt worden. Als Graf Beust den ent¬
gegengesetzten Versuch machte, sich etwas freundlich zu den christlichen, ins¬
besondere den slavischen Unterthanen der Pforte zu stellen, wurde er durch
besagten v. Prokesch-Osten in der „Allg. Ztg." leidenschaftlich abgekanzelt.
Gegenwärtig dürfte man in Wien den türkischen Verhältnissen gegenüber doch
wohl auf dem Standpunkt des Abwartens stehen. Man wird einsehen, daß
es gefährlich ist, den christlichen Unterthanen der Pforte nur im Lichte des
Feindes zu erscheinen, daß das nichts Anderes heißt, als diese Bevölkerungen
mit Gewalt in die Arme Rußlands treiben. Dennoch würden augenblicklich,
wie mit entgegengesetzten Absichten immer, Rusland und Oestreich in ihrem
Verhalten gegen die Türkei übereinstimmen. Nur daß Rußland ein wenig
mehr die christlichen Bevölkerungen antreibt, während Oestreich ihre Hoffnungen
nicht anfache, aber auch nichts mehr thut, dieselben zu unterdrücken. Gelingt
es den christlichen Bevölkerungen der europäischen Türkei, erfolgreiche Schritte
auf der Bahn ihrer Selbstständigkeit zu thun, so ist die Frage, ob mit der
schwindenden Furcht vor den Türken die Schutzherrlichkeit Rußlands nicht
anfängt eines Tages ihnen bedenklich zu werden.

Die orientalische Frage ist also augenblicklich kein Hinderniß für die
Herrscher Rußlands und Oestreichs, zu Gunsten des europäischen Friedens ihr
mächtiges Wort nachdrücklich einzulegen.

Man sagt: dem Ernst dieses Friedensbedürfnisses werde die glückliche
Lage der Polen in Galizien zum Opfer fallen müssen. Aber Rußland steht
im Begriff, einen neuen Aussöhnungsversuch mit seinen polnischen Unterthanen
zu machen. Das ist nicht der Moment, von der östreichisch-ungarischen
Monarchie Maßregeln der Unterdrückung gegen die Polen zu heischen.

Was man in Frankreich von der Septemberzusammenkunft fürchtet, mit
Jngrim fürchtet und mit Angst, das ist eine feierliche Bekräftigung der
jetzigen Territorialeintheilung Europas, eine Besiegelung derjenigen Karte
von Europa, welche an die Stelle der Karte des wiener Congresses getreten
ist. Was sollte Frankreich gegenüber einer solchen Bekräftigung thun, auch
wenn es nicht zur Theilnahme eingeladen würde? Sollte es seine Rechte auf
die Revanche, auf den Krieg, den es vorbereitet, auf die Rheingrenze, die es
mindestens zu erobern gedenkt, mit lauter Stimme geltend machen? Oder
sollte es einen feierlichen Akt der meisten großen Nationen des europäischen
Continents: Rußlands, Oestreich-Ungarns, Deutschlands, Italiens, schweigend
hinnehmen?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/439>, abgerufen am 22.12.2024.