Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wird jedoch auf die Schwierigkeit hingewiesen, welche aus der Handhabung
der dafür erforderlichen "sehr großen Massen" erwächst, und als leitender Ge¬
danke, schon von den ersten Bewegungen an läßt sich das Bestreben erkennen,
die feindliche Hauptmacht in nördlicher Richtung von ihrer Verbindung mit
Paris abzudrängen. -- Das Einfachste ist das Vollkommenste, aber
auch das Schwerste! Der Moltke'sche Plan ist ein solches Einfachstes und
Vollkommenstes. Schon der Umstand, daß er nach Jahr und Tag pure aus¬
geführt werden konnte, ist etwas so Außerordentliches, daß es in der ganzen
Kriegsgeschichte kaum ein zweites Beispiel davon geben dürfte. Wenn deshalb
eine große Berliner Zeitung bei Besprechung des Generalstabsbuchs bemerkt:
"Die ganze Schilderung des deutschen Aufmarsches macht nicht den Ein¬
druck einer hervorragend genialen Leistung, sondern bekundet die
solidesten Eigenschaften des bürgerlichen Lebens: berechnende Voraussicht,
welche Glücksfälle nicht in Anschlag bringt, ruhige Umsicht, welche nichts
überstürzt, geschäftsmäßige Arbeit, welche sich durch nichts in Aufregung
bringen läßt" -- so glauben wir, daß dies ein unzureichendes Urtheil ist.
Wir wissen wohl, daß jene Zeitung weit davon entfernt ist, mit dieser Be¬
trachtung einen Tadel oder vielmehr eine Ruhmesminderung aussprechen zu
wollen; aber was ist dann genial, wenn es nicht jener weitvorausschauende
Blick, nicht jener den Nerv der Dinge sicher treffende Finger ist, der sich in
Moltkes Denkschrift offenbart! War etwa der Feldzug Napoleons nach Ae-
gypten oder der nach Rußland genial, weil beide schlecht vorbereitet waren
und nach der Darbringung ungeheuerer Menschenhekatomben nutzlos zusam¬
menbrachen? Die "Erhabenheit" solchen Unsinns oder solchen Frevels nennen
die Menschen gar zu gerne "genial"; wir thun es nicht; aber wir rathen sehr,
nicht unsren Feinden vorzugreifen; nicht schon jetzt wieder in den alten deut¬
schen Fehler der Selbstverkleinerung zu verfallen! Ja, jener Aufmarsch gegen
Frankreich war genial; jene Art der Kriegseinleitung war unsern Heerfüh¬
rern vom besten Genius Deutschlands eingegeben! Und wie die Con¬
ception des Aufmarsches, so ist auch dieser selbst bewundernswerth. "Man
wollte gar nicht oder vollständig rüsten und hatte das Vertrauen, bei
der Ordnung, welche in allen militairischen Zweigen herrschte, damit nicht zu
spät zu kommen." Vor der in der Nacht zum 16. Juli erfolgenden Mobil-
machungs-Ordre war jede partielle Maßnahme für den Krieg, sogar die Ar-
mirung der Grenzfestungen unterblieben; nun geschah aber festen, schnellen
Schrittes Alles, was für die Kriegsbereitschaft nothwendig und als solches
längst vorausgesehen und vorbereitet war.

Die Combattantenstärke der deutschen Armeen bei Beginn des
Krieges wird für die Feldarmee mit 462.300 Mann Infanterie, 56,800 Mann
Cavallerie und 1884 Geschützen, für die Besatzungs- und Ersatztruppen 297,500


wird jedoch auf die Schwierigkeit hingewiesen, welche aus der Handhabung
der dafür erforderlichen „sehr großen Massen" erwächst, und als leitender Ge¬
danke, schon von den ersten Bewegungen an läßt sich das Bestreben erkennen,
die feindliche Hauptmacht in nördlicher Richtung von ihrer Verbindung mit
Paris abzudrängen. — Das Einfachste ist das Vollkommenste, aber
auch das Schwerste! Der Moltke'sche Plan ist ein solches Einfachstes und
Vollkommenstes. Schon der Umstand, daß er nach Jahr und Tag pure aus¬
geführt werden konnte, ist etwas so Außerordentliches, daß es in der ganzen
Kriegsgeschichte kaum ein zweites Beispiel davon geben dürfte. Wenn deshalb
eine große Berliner Zeitung bei Besprechung des Generalstabsbuchs bemerkt:
„Die ganze Schilderung des deutschen Aufmarsches macht nicht den Ein¬
druck einer hervorragend genialen Leistung, sondern bekundet die
solidesten Eigenschaften des bürgerlichen Lebens: berechnende Voraussicht,
welche Glücksfälle nicht in Anschlag bringt, ruhige Umsicht, welche nichts
überstürzt, geschäftsmäßige Arbeit, welche sich durch nichts in Aufregung
bringen läßt" — so glauben wir, daß dies ein unzureichendes Urtheil ist.
Wir wissen wohl, daß jene Zeitung weit davon entfernt ist, mit dieser Be¬
trachtung einen Tadel oder vielmehr eine Ruhmesminderung aussprechen zu
wollen; aber was ist dann genial, wenn es nicht jener weitvorausschauende
Blick, nicht jener den Nerv der Dinge sicher treffende Finger ist, der sich in
Moltkes Denkschrift offenbart! War etwa der Feldzug Napoleons nach Ae-
gypten oder der nach Rußland genial, weil beide schlecht vorbereitet waren
und nach der Darbringung ungeheuerer Menschenhekatomben nutzlos zusam¬
menbrachen? Die „Erhabenheit" solchen Unsinns oder solchen Frevels nennen
die Menschen gar zu gerne „genial"; wir thun es nicht; aber wir rathen sehr,
nicht unsren Feinden vorzugreifen; nicht schon jetzt wieder in den alten deut¬
schen Fehler der Selbstverkleinerung zu verfallen! Ja, jener Aufmarsch gegen
Frankreich war genial; jene Art der Kriegseinleitung war unsern Heerfüh¬
rern vom besten Genius Deutschlands eingegeben! Und wie die Con¬
ception des Aufmarsches, so ist auch dieser selbst bewundernswerth. „Man
wollte gar nicht oder vollständig rüsten und hatte das Vertrauen, bei
der Ordnung, welche in allen militairischen Zweigen herrschte, damit nicht zu
spät zu kommen." Vor der in der Nacht zum 16. Juli erfolgenden Mobil-
machungs-Ordre war jede partielle Maßnahme für den Krieg, sogar die Ar-
mirung der Grenzfestungen unterblieben; nun geschah aber festen, schnellen
Schrittes Alles, was für die Kriegsbereitschaft nothwendig und als solches
längst vorausgesehen und vorbereitet war.

Die Combattantenstärke der deutschen Armeen bei Beginn des
Krieges wird für die Feldarmee mit 462.300 Mann Infanterie, 56,800 Mann
Cavallerie und 1884 Geschützen, für die Besatzungs- und Ersatztruppen 297,500


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128177"/>
          <p xml:id="ID_838" prev="#ID_837"> wird jedoch auf die Schwierigkeit hingewiesen, welche aus der Handhabung<lb/>
der dafür erforderlichen &#x201E;sehr großen Massen" erwächst, und als leitender Ge¬<lb/>
danke, schon von den ersten Bewegungen an läßt sich das Bestreben erkennen,<lb/>
die feindliche Hauptmacht in nördlicher Richtung von ihrer Verbindung mit<lb/>
Paris abzudrängen. &#x2014; Das Einfachste ist das Vollkommenste, aber<lb/>
auch das Schwerste! Der Moltke'sche Plan ist ein solches Einfachstes und<lb/>
Vollkommenstes. Schon der Umstand, daß er nach Jahr und Tag pure aus¬<lb/>
geführt werden konnte, ist etwas so Außerordentliches, daß es in der ganzen<lb/>
Kriegsgeschichte kaum ein zweites Beispiel davon geben dürfte. Wenn deshalb<lb/>
eine große Berliner Zeitung bei Besprechung des Generalstabsbuchs bemerkt:<lb/>
&#x201E;Die ganze Schilderung des deutschen Aufmarsches macht nicht den Ein¬<lb/>
druck einer hervorragend genialen Leistung, sondern bekundet die<lb/>
solidesten Eigenschaften des bürgerlichen Lebens: berechnende Voraussicht,<lb/>
welche Glücksfälle nicht in Anschlag bringt, ruhige Umsicht, welche nichts<lb/>
überstürzt, geschäftsmäßige Arbeit, welche sich durch nichts in Aufregung<lb/>
bringen läßt" &#x2014; so glauben wir, daß dies ein unzureichendes Urtheil ist.<lb/>
Wir wissen wohl, daß jene Zeitung weit davon entfernt ist, mit dieser Be¬<lb/>
trachtung einen Tadel oder vielmehr eine Ruhmesminderung aussprechen zu<lb/>
wollen; aber was ist dann genial, wenn es nicht jener weitvorausschauende<lb/>
Blick, nicht jener den Nerv der Dinge sicher treffende Finger ist, der sich in<lb/>
Moltkes Denkschrift offenbart! War etwa der Feldzug Napoleons nach Ae-<lb/>
gypten oder der nach Rußland genial, weil beide schlecht vorbereitet waren<lb/>
und nach der Darbringung ungeheuerer Menschenhekatomben nutzlos zusam¬<lb/>
menbrachen? Die &#x201E;Erhabenheit" solchen Unsinns oder solchen Frevels nennen<lb/>
die Menschen gar zu gerne &#x201E;genial"; wir thun es nicht; aber wir rathen sehr,<lb/>
nicht unsren Feinden vorzugreifen; nicht schon jetzt wieder in den alten deut¬<lb/>
schen Fehler der Selbstverkleinerung zu verfallen! Ja, jener Aufmarsch gegen<lb/>
Frankreich war genial; jene Art der Kriegseinleitung war unsern Heerfüh¬<lb/>
rern vom besten Genius Deutschlands eingegeben! Und wie die Con¬<lb/>
ception des Aufmarsches, so ist auch dieser selbst bewundernswerth. &#x201E;Man<lb/>
wollte gar nicht oder vollständig rüsten und hatte das Vertrauen, bei<lb/>
der Ordnung, welche in allen militairischen Zweigen herrschte, damit nicht zu<lb/>
spät zu kommen." Vor der in der Nacht zum 16. Juli erfolgenden Mobil-<lb/>
machungs-Ordre war jede partielle Maßnahme für den Krieg, sogar die Ar-<lb/>
mirung der Grenzfestungen unterblieben; nun geschah aber festen, schnellen<lb/>
Schrittes Alles, was für die Kriegsbereitschaft nothwendig und als solches<lb/>
längst vorausgesehen und vorbereitet war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_839" next="#ID_840"> Die Combattantenstärke der deutschen Armeen bei Beginn des<lb/>
Krieges wird für die Feldarmee mit 462.300 Mann Infanterie, 56,800 Mann<lb/>
Cavallerie und 1884 Geschützen, für die Besatzungs- und Ersatztruppen 297,500</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0249] wird jedoch auf die Schwierigkeit hingewiesen, welche aus der Handhabung der dafür erforderlichen „sehr großen Massen" erwächst, und als leitender Ge¬ danke, schon von den ersten Bewegungen an läßt sich das Bestreben erkennen, die feindliche Hauptmacht in nördlicher Richtung von ihrer Verbindung mit Paris abzudrängen. — Das Einfachste ist das Vollkommenste, aber auch das Schwerste! Der Moltke'sche Plan ist ein solches Einfachstes und Vollkommenstes. Schon der Umstand, daß er nach Jahr und Tag pure aus¬ geführt werden konnte, ist etwas so Außerordentliches, daß es in der ganzen Kriegsgeschichte kaum ein zweites Beispiel davon geben dürfte. Wenn deshalb eine große Berliner Zeitung bei Besprechung des Generalstabsbuchs bemerkt: „Die ganze Schilderung des deutschen Aufmarsches macht nicht den Ein¬ druck einer hervorragend genialen Leistung, sondern bekundet die solidesten Eigenschaften des bürgerlichen Lebens: berechnende Voraussicht, welche Glücksfälle nicht in Anschlag bringt, ruhige Umsicht, welche nichts überstürzt, geschäftsmäßige Arbeit, welche sich durch nichts in Aufregung bringen läßt" — so glauben wir, daß dies ein unzureichendes Urtheil ist. Wir wissen wohl, daß jene Zeitung weit davon entfernt ist, mit dieser Be¬ trachtung einen Tadel oder vielmehr eine Ruhmesminderung aussprechen zu wollen; aber was ist dann genial, wenn es nicht jener weitvorausschauende Blick, nicht jener den Nerv der Dinge sicher treffende Finger ist, der sich in Moltkes Denkschrift offenbart! War etwa der Feldzug Napoleons nach Ae- gypten oder der nach Rußland genial, weil beide schlecht vorbereitet waren und nach der Darbringung ungeheuerer Menschenhekatomben nutzlos zusam¬ menbrachen? Die „Erhabenheit" solchen Unsinns oder solchen Frevels nennen die Menschen gar zu gerne „genial"; wir thun es nicht; aber wir rathen sehr, nicht unsren Feinden vorzugreifen; nicht schon jetzt wieder in den alten deut¬ schen Fehler der Selbstverkleinerung zu verfallen! Ja, jener Aufmarsch gegen Frankreich war genial; jene Art der Kriegseinleitung war unsern Heerfüh¬ rern vom besten Genius Deutschlands eingegeben! Und wie die Con¬ ception des Aufmarsches, so ist auch dieser selbst bewundernswerth. „Man wollte gar nicht oder vollständig rüsten und hatte das Vertrauen, bei der Ordnung, welche in allen militairischen Zweigen herrschte, damit nicht zu spät zu kommen." Vor der in der Nacht zum 16. Juli erfolgenden Mobil- machungs-Ordre war jede partielle Maßnahme für den Krieg, sogar die Ar- mirung der Grenzfestungen unterblieben; nun geschah aber festen, schnellen Schrittes Alles, was für die Kriegsbereitschaft nothwendig und als solches längst vorausgesehen und vorbereitet war. Die Combattantenstärke der deutschen Armeen bei Beginn des Krieges wird für die Feldarmee mit 462.300 Mann Infanterie, 56,800 Mann Cavallerie und 1884 Geschützen, für die Besatzungs- und Ersatztruppen 297,500

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/249
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/249>, abgerufen am 23.07.2024.