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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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hier und das verdarb nun Alles. Denn jetzt erst hörte ich, daß man mich
auch durch die Leipziger Wahl schleppe. Unsinniger Weise aber hatte man
mich in Reußen dreimal zusagen lassen. Wäre die Sache günstig in
Leipzig, so müßte ich durch die unbegreifliche Absendung der zusagenden Briefe
dort den Freunden'wortbrüchig werden. Aber es ist in Reußen ebenfalls
nichts, denn es muß dort wegen falscher Anordnungen auf's Neue gewählt
werden, und bin ich in Leipzig durchgefallen, so falle ich dort nun auch durch,
da die Abstimmung sich ändert und das böse Beispiel Leipzigs wirkt. Aber
das ist nicht genug. Während man in Leipzig noch zu siegen meint, schreibt
man auch einen Bettelbrief an's Voigtland und giebt sich dadurch selbst das
Zeugniß, daß man an den Sieg nicht glaubt. Jetzt wird man mich wahr¬
scheinlich noch mit Uebereilung in einigen Wahlbezirken vorschlagen und eben¬
falls durchfallen lassen, und dann kehre ich mit 3--4 Niederlagen geschändet
zurück und man lacht mich aus. Man läßt Biedermann wählen und erst
dann denkt man daran, daß es> gut gewesen wäre, mich zu rufen. Der
Vaterländische Verein ist zu Grunde gerichtet, ist eine Beute Semmig's") ge¬
worden, weil man sich mit leerem Formenkram herumschlägt, selten sich be¬
spricht, dann um halb 10 Uhr anfängt und sich bis nach Mitternacht um
Nichts streitet. Die fähigsten Menschen "haben keine Zeit" und gehen gar
nicht hin, andre gehen hin. sind aber laß und pomadig. Und hätte man
nun noch den Verein aufgelöst oder gesprengt, so war's doch ein ehrenvoller
Tod; aber nein, man läßt ihn elendiglich an Auswüchsen und an der
Schwindsucht sterben zum Hohn und Spott der Gegner. Kurz, Alles was
seit langen Jahren so sehr mühsam gepflanzt wurde und nun mächtig auf¬
geblüht war, das ist in wenig Wochen völlig zu Grunde gerichtet, und man
hat sich die Frucht vor der Nase wegpflücken lassen. --

Was ich in diesen Tagen an Aerger und Wuth verschlungen habe, das
ist unermeßlich. Friese^) hat mir mit großer Treue alle Tage geschrieben,
was ich sehr dankbar anerkenne; aber er hat mir seine Ansicht geschrieben,
vielleicht hat er meine Aufforderung, einen festen Plan zu entwerfen, gar nicht
gekannt, sondern in liebenswürdigem Diensteifer gerade die Briefe fortgeschickt,
die nicht fortgeschickt werden durften. -- Nun, die Welt geht auch ohne mich
fort und ich will mich freuen, wenn ich erst die Rückkehr überwunden habe
und dann friedlich im Garten sitze. Die armen Kinder! wahrscheinlich kom¬
men sie nirgend hin; geh nur einmal mit ihnen auf die Messe, laß sie auf
dem Caroussel fahren und kaufe jedem eine Apfelsine. Ich war allerdings trüb




Damals einer der "röthesten", auch socialistisch angeflogenen Leipziger Gegner der ver¬
mittelnden Politik Blums; nach der Revolution bis zu seiner Vertreibung im Jahr 187",
Professor der deutsche" Sprache in Orleans.
Vlums buchhändlerischer Associe.

hier und das verdarb nun Alles. Denn jetzt erst hörte ich, daß man mich
auch durch die Leipziger Wahl schleppe. Unsinniger Weise aber hatte man
mich in Reußen dreimal zusagen lassen. Wäre die Sache günstig in
Leipzig, so müßte ich durch die unbegreifliche Absendung der zusagenden Briefe
dort den Freunden'wortbrüchig werden. Aber es ist in Reußen ebenfalls
nichts, denn es muß dort wegen falscher Anordnungen auf's Neue gewählt
werden, und bin ich in Leipzig durchgefallen, so falle ich dort nun auch durch,
da die Abstimmung sich ändert und das böse Beispiel Leipzigs wirkt. Aber
das ist nicht genug. Während man in Leipzig noch zu siegen meint, schreibt
man auch einen Bettelbrief an's Voigtland und giebt sich dadurch selbst das
Zeugniß, daß man an den Sieg nicht glaubt. Jetzt wird man mich wahr¬
scheinlich noch mit Uebereilung in einigen Wahlbezirken vorschlagen und eben¬
falls durchfallen lassen, und dann kehre ich mit 3—4 Niederlagen geschändet
zurück und man lacht mich aus. Man läßt Biedermann wählen und erst
dann denkt man daran, daß es> gut gewesen wäre, mich zu rufen. Der
Vaterländische Verein ist zu Grunde gerichtet, ist eine Beute Semmig's") ge¬
worden, weil man sich mit leerem Formenkram herumschlägt, selten sich be¬
spricht, dann um halb 10 Uhr anfängt und sich bis nach Mitternacht um
Nichts streitet. Die fähigsten Menschen „haben keine Zeit" und gehen gar
nicht hin, andre gehen hin. sind aber laß und pomadig. Und hätte man
nun noch den Verein aufgelöst oder gesprengt, so war's doch ein ehrenvoller
Tod; aber nein, man läßt ihn elendiglich an Auswüchsen und an der
Schwindsucht sterben zum Hohn und Spott der Gegner. Kurz, Alles was
seit langen Jahren so sehr mühsam gepflanzt wurde und nun mächtig auf¬
geblüht war, das ist in wenig Wochen völlig zu Grunde gerichtet, und man
hat sich die Frucht vor der Nase wegpflücken lassen. —

Was ich in diesen Tagen an Aerger und Wuth verschlungen habe, das
ist unermeßlich. Friese^) hat mir mit großer Treue alle Tage geschrieben,
was ich sehr dankbar anerkenne; aber er hat mir seine Ansicht geschrieben,
vielleicht hat er meine Aufforderung, einen festen Plan zu entwerfen, gar nicht
gekannt, sondern in liebenswürdigem Diensteifer gerade die Briefe fortgeschickt,
die nicht fortgeschickt werden durften. — Nun, die Welt geht auch ohne mich
fort und ich will mich freuen, wenn ich erst die Rückkehr überwunden habe
und dann friedlich im Garten sitze. Die armen Kinder! wahrscheinlich kom¬
men sie nirgend hin; geh nur einmal mit ihnen auf die Messe, laß sie auf
dem Caroussel fahren und kaufe jedem eine Apfelsine. Ich war allerdings trüb




Damals einer der „röthesten", auch socialistisch angeflogenen Leipziger Gegner der ver¬
mittelnden Politik Blums; nach der Revolution bis zu seiner Vertreibung im Jahr 187»,
Professor der deutsche» Sprache in Orleans.
Vlums buchhändlerischer Associe.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/216>, abgerufen am 22.07.2024.