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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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kydides ist schon wieder ein unermeßlicher Schritt vorwärts, und so nahe er
der Zeit nach an Herodot reicht, innerlich durch eine völlig neue Phase des
griechischen Geisteslebens von ihm geschieden. Im Norden ist kein Thukydi-
des dem Herodot gefolgt, wie ja das ganze Mittelalter in seiner Geschicht¬
schreibung nirgends über die herodoteische Stufe hinaus gekommen, meistens
in den Vorstufen dazu stehen geblieben ist. Daher aber stehen hier neben dem
einen Snorri unzählige von kaum minderer Größe, deren Namen großenteils
nicht einmal bekannt sind, während ihre Werke leben -- wie es immer und
überall sein wird, wo irgend eine Kunst im höchsten Sinne des Wortes wirk¬
lich volksthümlich lebendig sich gestaltet hat.

Gegen die äußere und innere Fülle, das frische Leben und die absolute
Plastik dieser nordischen Geschichtschreiber schrumpft alles, was wir sonst an
gleichzeitiger mittelalterlicher Geschichtschreibung in lateinischer Sprache kennen,
zu gespensterhaften Schatten oder zu kindisch manierirter und verschnörkelter
Rhetorik zusammen. Es läßt sich auf scandinavischen Boden selbst die Probe
dafür machen. Man vergleiche einmal den viel genannten und gebrauchten
und leider unentbehrlichen lateinischen Geschichtschreiber Dänemarks, Saxo
Grammaticus mit irgend einem beliebigen Sagenerzähler, falls es überhaupt
möglich ist, das innere Widerstreben zu überwinden, wenn man die vollste
Natur und Kraft direct neben die absoluteste Unnatur und Hohlheit halten
muß.

Für uns moderne Menschen ist aber nicht einmal hierin der eigentliche
Schatz der nordischen Sagenprosa beschlossen. Dieser liegt unseres Bedünkens
in jenem fruchtbarsten, ja geradezu von unerschöpflichen Reichthum überquellen¬
den Gebiete, das ebenso wie alle andern Gattungen einfach Saga genannt wird,
das wir aber Familiengeschichte, Privatmemoiren, biographische Charakterbilder
nennen würden. Meist ist alles drei zusammen, nur begreiflich selten in
gleichen Mischungsverhältnissen. Hier ist in der That für den modernen den¬
kenden Erforscher menschlicher Zustände, insbesondere des Seelenlebens ver¬
gangener Zeiten eine solche Fülle reinen Goldes aufgespeichert, noch dazu fast
ausnahmslos in silbernen Schalen, daß der Reichthum verwirrt und Auge
und Sinn schwindeln. Ausgebeutet ist noch sehr wenig davon, denn die ge¬
lehrte Beschäftigung der Germanisten mit diesen Dingen betraf doch neben
dem linguistischen Interesse, das sie anzog, mehr das äußerlich antiquarische,
was man im vulgären Sinne Sitten- und Culturgeschichte nennt, Rechtsalter¬
thümer :c>, nicht das innerliche, welches einer kommenden Zeit hier die Haupt¬
sache dünken wird. Auch hier bezeichnen Namen wie die Nialssage, Faröersage,
Lardoelasage, oder Gunnlaugs, Fostbroedra, Kormakssage nur die allerhöchsten
Spitzen, neben denen aber unzählige andere von fast gleicher Höhe stehen.

Dies ist der Punkt, wo die nordische Literatur für die moderne deutsche


kydides ist schon wieder ein unermeßlicher Schritt vorwärts, und so nahe er
der Zeit nach an Herodot reicht, innerlich durch eine völlig neue Phase des
griechischen Geisteslebens von ihm geschieden. Im Norden ist kein Thukydi-
des dem Herodot gefolgt, wie ja das ganze Mittelalter in seiner Geschicht¬
schreibung nirgends über die herodoteische Stufe hinaus gekommen, meistens
in den Vorstufen dazu stehen geblieben ist. Daher aber stehen hier neben dem
einen Snorri unzählige von kaum minderer Größe, deren Namen großenteils
nicht einmal bekannt sind, während ihre Werke leben — wie es immer und
überall sein wird, wo irgend eine Kunst im höchsten Sinne des Wortes wirk¬
lich volksthümlich lebendig sich gestaltet hat.

Gegen die äußere und innere Fülle, das frische Leben und die absolute
Plastik dieser nordischen Geschichtschreiber schrumpft alles, was wir sonst an
gleichzeitiger mittelalterlicher Geschichtschreibung in lateinischer Sprache kennen,
zu gespensterhaften Schatten oder zu kindisch manierirter und verschnörkelter
Rhetorik zusammen. Es läßt sich auf scandinavischen Boden selbst die Probe
dafür machen. Man vergleiche einmal den viel genannten und gebrauchten
und leider unentbehrlichen lateinischen Geschichtschreiber Dänemarks, Saxo
Grammaticus mit irgend einem beliebigen Sagenerzähler, falls es überhaupt
möglich ist, das innere Widerstreben zu überwinden, wenn man die vollste
Natur und Kraft direct neben die absoluteste Unnatur und Hohlheit halten
muß.

Für uns moderne Menschen ist aber nicht einmal hierin der eigentliche
Schatz der nordischen Sagenprosa beschlossen. Dieser liegt unseres Bedünkens
in jenem fruchtbarsten, ja geradezu von unerschöpflichen Reichthum überquellen¬
den Gebiete, das ebenso wie alle andern Gattungen einfach Saga genannt wird,
das wir aber Familiengeschichte, Privatmemoiren, biographische Charakterbilder
nennen würden. Meist ist alles drei zusammen, nur begreiflich selten in
gleichen Mischungsverhältnissen. Hier ist in der That für den modernen den¬
kenden Erforscher menschlicher Zustände, insbesondere des Seelenlebens ver¬
gangener Zeiten eine solche Fülle reinen Goldes aufgespeichert, noch dazu fast
ausnahmslos in silbernen Schalen, daß der Reichthum verwirrt und Auge
und Sinn schwindeln. Ausgebeutet ist noch sehr wenig davon, denn die ge¬
lehrte Beschäftigung der Germanisten mit diesen Dingen betraf doch neben
dem linguistischen Interesse, das sie anzog, mehr das äußerlich antiquarische,
was man im vulgären Sinne Sitten- und Culturgeschichte nennt, Rechtsalter¬
thümer :c>, nicht das innerliche, welches einer kommenden Zeit hier die Haupt¬
sache dünken wird. Auch hier bezeichnen Namen wie die Nialssage, Faröersage,
Lardoelasage, oder Gunnlaugs, Fostbroedra, Kormakssage nur die allerhöchsten
Spitzen, neben denen aber unzählige andere von fast gleicher Höhe stehen.

Dies ist der Punkt, wo die nordische Literatur für die moderne deutsche


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[0104] kydides ist schon wieder ein unermeßlicher Schritt vorwärts, und so nahe er der Zeit nach an Herodot reicht, innerlich durch eine völlig neue Phase des griechischen Geisteslebens von ihm geschieden. Im Norden ist kein Thukydi- des dem Herodot gefolgt, wie ja das ganze Mittelalter in seiner Geschicht¬ schreibung nirgends über die herodoteische Stufe hinaus gekommen, meistens in den Vorstufen dazu stehen geblieben ist. Daher aber stehen hier neben dem einen Snorri unzählige von kaum minderer Größe, deren Namen großenteils nicht einmal bekannt sind, während ihre Werke leben — wie es immer und überall sein wird, wo irgend eine Kunst im höchsten Sinne des Wortes wirk¬ lich volksthümlich lebendig sich gestaltet hat. Gegen die äußere und innere Fülle, das frische Leben und die absolute Plastik dieser nordischen Geschichtschreiber schrumpft alles, was wir sonst an gleichzeitiger mittelalterlicher Geschichtschreibung in lateinischer Sprache kennen, zu gespensterhaften Schatten oder zu kindisch manierirter und verschnörkelter Rhetorik zusammen. Es läßt sich auf scandinavischen Boden selbst die Probe dafür machen. Man vergleiche einmal den viel genannten und gebrauchten und leider unentbehrlichen lateinischen Geschichtschreiber Dänemarks, Saxo Grammaticus mit irgend einem beliebigen Sagenerzähler, falls es überhaupt möglich ist, das innere Widerstreben zu überwinden, wenn man die vollste Natur und Kraft direct neben die absoluteste Unnatur und Hohlheit halten muß. Für uns moderne Menschen ist aber nicht einmal hierin der eigentliche Schatz der nordischen Sagenprosa beschlossen. Dieser liegt unseres Bedünkens in jenem fruchtbarsten, ja geradezu von unerschöpflichen Reichthum überquellen¬ den Gebiete, das ebenso wie alle andern Gattungen einfach Saga genannt wird, das wir aber Familiengeschichte, Privatmemoiren, biographische Charakterbilder nennen würden. Meist ist alles drei zusammen, nur begreiflich selten in gleichen Mischungsverhältnissen. Hier ist in der That für den modernen den¬ kenden Erforscher menschlicher Zustände, insbesondere des Seelenlebens ver¬ gangener Zeiten eine solche Fülle reinen Goldes aufgespeichert, noch dazu fast ausnahmslos in silbernen Schalen, daß der Reichthum verwirrt und Auge und Sinn schwindeln. Ausgebeutet ist noch sehr wenig davon, denn die ge¬ lehrte Beschäftigung der Germanisten mit diesen Dingen betraf doch neben dem linguistischen Interesse, das sie anzog, mehr das äußerlich antiquarische, was man im vulgären Sinne Sitten- und Culturgeschichte nennt, Rechtsalter¬ thümer :c>, nicht das innerliche, welches einer kommenden Zeit hier die Haupt¬ sache dünken wird. Auch hier bezeichnen Namen wie die Nialssage, Faröersage, Lardoelasage, oder Gunnlaugs, Fostbroedra, Kormakssage nur die allerhöchsten Spitzen, neben denen aber unzählige andere von fast gleicher Höhe stehen. Dies ist der Punkt, wo die nordische Literatur für die moderne deutsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/104>, abgerufen am 22.07.2024.