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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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in seiner directen Uebertragung nach dem Norden prosaisch aufgelöst und
höchst kunstvoll ineinandergeflochten abgelagert hat. Nur insoweit in den
epischen Figuren eines Attila, Dietrich, Günther, Sigfrid, Rudiger ze. neben
ihrer ursprünglich mythischen Seele noch so zu sagen eine historische Fleisch-
werdung anzunehmen ist, kann hier von einem historischen Elemente die Rede
sein. Wieder eine lange Reihe anderer, wie die von dem viel genannten
dänischen Hrolf Kraki, von Ragnar Lodbrok, von Hervor und Heidrok:c.
haben unzweifelhaft eine geschichtliche Basis, sind aber durch den sie umrankenden
Mythus zu Sagen in unserem Sinne und zwar zu Heroensagen geworden.
Jeder Zug ist hier ebensosehr historisch wie unhistorisch: historisch, indem er
eine ganz bestimmte Wirklichkeit von Ereignissen und Situationen des nordischen
Lebens treuestens und meist in unvergleichlicher Plastik wiedergiebt, unhistorisch
indem kein einziger solcher Züge an einen bestimmten Ort, eine bestimmte
Jahreszahl oder an die bestimmte Person, der er zugehören soll, nur mit
einiger Sicherheit sich anheften läßt. Sie sind die Verzweiflung des urkund¬
lichen Geschichtsforschers, das Entzücken des Culturhistorikers.

Aber die bei weitem größte Masse dieser ganzen Literatur ist doch auch
in unserm Sinne historisch, wiewohl sich natürlich nicht für die absolute
Richtigkeit jeder einzelnen Angabe in ihnen bürgen läßt. Es ist dem scandi-
navischen Norden im früheren Mittelalter allein gegönnt gewesen, was keine
andere damalige Culturnation erreicht hat, eine Geschichtschreibung in natio¬
naler Sprache und im größten Stile, zugleich in unübertroffener Technik zu
schaffen. Will man auch hier vergleichen, so liegt es nahe, etwa einen Snorri
Sturluson mit einem Herodot zusammenzustellen und der Vergleich ist weniger
unpassend als der zwischen Nibelungen und Homer oder Gudrun und Odyssee.
Die sonnige Heiterkeit griechischen Menschenthums fehlt freilich diesem Manne,
der in der Eis- und Schneewüste Islands von und für ein Geschlecht schrieb,
das in jeder Art den Kampf des Daseins mit seiner furchtbar feindseligen
Umgebung zu führen gestählt war. An Begabung für die reale Welt, an
Ernst und Tiefe der Auffassung menschlicher Geschicke, an durchgebildeter
Schulung der gesammten Technik der Historiographie bis zu den äußerlichsten
Dingen des Stiles und der Sprache steht der Isländer dem Jonier gleich.
Daß die Geschichte des Nordens im 10. und 11. Jahrhundert nicht jene ewig
menschliche Gültigkeit beanspruchen kann, wie das große Drama des Kampfes
zwischen Orient und Occident, das uns Herodot darstellt -- dafür darf der
Geschichtschreiber nicht verantwortlich gemacht werden. Er nimmt seinen Stoff,
wie er ihn findet und seine Verantwortlichkeit beginnt erst da, wo es sich
darum handelt zu sehen, was er daraus gestaltet hat. Für uns steht Herodot
in einsamer Größe da, weil die Unbilden der Zeit alle seine Borgänger
und Rivalen und unmittelbaren Nachfolger verschlungen haben. Denn Thu-


in seiner directen Uebertragung nach dem Norden prosaisch aufgelöst und
höchst kunstvoll ineinandergeflochten abgelagert hat. Nur insoweit in den
epischen Figuren eines Attila, Dietrich, Günther, Sigfrid, Rudiger ze. neben
ihrer ursprünglich mythischen Seele noch so zu sagen eine historische Fleisch-
werdung anzunehmen ist, kann hier von einem historischen Elemente die Rede
sein. Wieder eine lange Reihe anderer, wie die von dem viel genannten
dänischen Hrolf Kraki, von Ragnar Lodbrok, von Hervor und Heidrok:c.
haben unzweifelhaft eine geschichtliche Basis, sind aber durch den sie umrankenden
Mythus zu Sagen in unserem Sinne und zwar zu Heroensagen geworden.
Jeder Zug ist hier ebensosehr historisch wie unhistorisch: historisch, indem er
eine ganz bestimmte Wirklichkeit von Ereignissen und Situationen des nordischen
Lebens treuestens und meist in unvergleichlicher Plastik wiedergiebt, unhistorisch
indem kein einziger solcher Züge an einen bestimmten Ort, eine bestimmte
Jahreszahl oder an die bestimmte Person, der er zugehören soll, nur mit
einiger Sicherheit sich anheften läßt. Sie sind die Verzweiflung des urkund¬
lichen Geschichtsforschers, das Entzücken des Culturhistorikers.

Aber die bei weitem größte Masse dieser ganzen Literatur ist doch auch
in unserm Sinne historisch, wiewohl sich natürlich nicht für die absolute
Richtigkeit jeder einzelnen Angabe in ihnen bürgen läßt. Es ist dem scandi-
navischen Norden im früheren Mittelalter allein gegönnt gewesen, was keine
andere damalige Culturnation erreicht hat, eine Geschichtschreibung in natio¬
naler Sprache und im größten Stile, zugleich in unübertroffener Technik zu
schaffen. Will man auch hier vergleichen, so liegt es nahe, etwa einen Snorri
Sturluson mit einem Herodot zusammenzustellen und der Vergleich ist weniger
unpassend als der zwischen Nibelungen und Homer oder Gudrun und Odyssee.
Die sonnige Heiterkeit griechischen Menschenthums fehlt freilich diesem Manne,
der in der Eis- und Schneewüste Islands von und für ein Geschlecht schrieb,
das in jeder Art den Kampf des Daseins mit seiner furchtbar feindseligen
Umgebung zu führen gestählt war. An Begabung für die reale Welt, an
Ernst und Tiefe der Auffassung menschlicher Geschicke, an durchgebildeter
Schulung der gesammten Technik der Historiographie bis zu den äußerlichsten
Dingen des Stiles und der Sprache steht der Isländer dem Jonier gleich.
Daß die Geschichte des Nordens im 10. und 11. Jahrhundert nicht jene ewig
menschliche Gültigkeit beanspruchen kann, wie das große Drama des Kampfes
zwischen Orient und Occident, das uns Herodot darstellt — dafür darf der
Geschichtschreiber nicht verantwortlich gemacht werden. Er nimmt seinen Stoff,
wie er ihn findet und seine Verantwortlichkeit beginnt erst da, wo es sich
darum handelt zu sehen, was er daraus gestaltet hat. Für uns steht Herodot
in einsamer Größe da, weil die Unbilden der Zeit alle seine Borgänger
und Rivalen und unmittelbaren Nachfolger verschlungen haben. Denn Thu-


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[0103] in seiner directen Uebertragung nach dem Norden prosaisch aufgelöst und höchst kunstvoll ineinandergeflochten abgelagert hat. Nur insoweit in den epischen Figuren eines Attila, Dietrich, Günther, Sigfrid, Rudiger ze. neben ihrer ursprünglich mythischen Seele noch so zu sagen eine historische Fleisch- werdung anzunehmen ist, kann hier von einem historischen Elemente die Rede sein. Wieder eine lange Reihe anderer, wie die von dem viel genannten dänischen Hrolf Kraki, von Ragnar Lodbrok, von Hervor und Heidrok:c. haben unzweifelhaft eine geschichtliche Basis, sind aber durch den sie umrankenden Mythus zu Sagen in unserem Sinne und zwar zu Heroensagen geworden. Jeder Zug ist hier ebensosehr historisch wie unhistorisch: historisch, indem er eine ganz bestimmte Wirklichkeit von Ereignissen und Situationen des nordischen Lebens treuestens und meist in unvergleichlicher Plastik wiedergiebt, unhistorisch indem kein einziger solcher Züge an einen bestimmten Ort, eine bestimmte Jahreszahl oder an die bestimmte Person, der er zugehören soll, nur mit einiger Sicherheit sich anheften läßt. Sie sind die Verzweiflung des urkund¬ lichen Geschichtsforschers, das Entzücken des Culturhistorikers. Aber die bei weitem größte Masse dieser ganzen Literatur ist doch auch in unserm Sinne historisch, wiewohl sich natürlich nicht für die absolute Richtigkeit jeder einzelnen Angabe in ihnen bürgen läßt. Es ist dem scandi- navischen Norden im früheren Mittelalter allein gegönnt gewesen, was keine andere damalige Culturnation erreicht hat, eine Geschichtschreibung in natio¬ naler Sprache und im größten Stile, zugleich in unübertroffener Technik zu schaffen. Will man auch hier vergleichen, so liegt es nahe, etwa einen Snorri Sturluson mit einem Herodot zusammenzustellen und der Vergleich ist weniger unpassend als der zwischen Nibelungen und Homer oder Gudrun und Odyssee. Die sonnige Heiterkeit griechischen Menschenthums fehlt freilich diesem Manne, der in der Eis- und Schneewüste Islands von und für ein Geschlecht schrieb, das in jeder Art den Kampf des Daseins mit seiner furchtbar feindseligen Umgebung zu führen gestählt war. An Begabung für die reale Welt, an Ernst und Tiefe der Auffassung menschlicher Geschicke, an durchgebildeter Schulung der gesammten Technik der Historiographie bis zu den äußerlichsten Dingen des Stiles und der Sprache steht der Isländer dem Jonier gleich. Daß die Geschichte des Nordens im 10. und 11. Jahrhundert nicht jene ewig menschliche Gültigkeit beanspruchen kann, wie das große Drama des Kampfes zwischen Orient und Occident, das uns Herodot darstellt — dafür darf der Geschichtschreiber nicht verantwortlich gemacht werden. Er nimmt seinen Stoff, wie er ihn findet und seine Verantwortlichkeit beginnt erst da, wo es sich darum handelt zu sehen, was er daraus gestaltet hat. Für uns steht Herodot in einsamer Größe da, weil die Unbilden der Zeit alle seine Borgänger und Rivalen und unmittelbaren Nachfolger verschlungen haben. Denn Thu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/103>, abgerufen am 22.07.2024.