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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Stimmung. Aber recht schüchtern und verschämt kommen diese ersten Symptome
heraus. Der Terrorismus der Parteimeinung erstickte meistens noch jede an¬
dere Regung. Offen für Bismarcks deutsche und auswärtige Politik Partei
nehmen, -- nur ein "Streber", nur ein agere xrovoeateur schien so etwas
wagen zu dürfen.

Da im Herbste 1864 trat aus den Reihen der Liberalen ein junger
Schriftsteller heraus, der die That, vor der andere liberale Gesinnungsgenossen
noch zögernd stille gestanden, mit der größten Entschiedenheit und Offenheit
wagte, -- Heinrich von Treitschke/ Als Privatdocent in Leipzig hatte
er vor Hunderten von Studenten seine liberale Gesinnung oft dargethan: die
sächsische Negierung würde ihm das Attest eines ihr sehr unliebsamen und
sehr unbequemen Liberalismus nicht haben versagen können; nur zu froh war
sie gewesen als er das Lehramt in Leipzig mit dem Freiburger vertauscht
hatte. Niemand durfte daran zweifeln, daß Treitschke ein Liberaler sei, --
auch wenn er jetzt in bedingter Weise für Bismarck eintrat.

Von schriftstellerischen Leistungen größeren Styles lag bis dahin nichts
Erhebliches vor. Ein Bändchen Gedichte (1856) hatte d"s patriotische Pathos,
die begeisterte Vaterlandsliebe des jungen Autors in hellerem Lichte als seine
poetische Begabung gezeigt. Eine Schrift über die Gesellschaftswissenschaft
(1869) durfte sich auch nicht großen Erfolges rühmen oder konnte nicht als
Zeugniß eines hervorragenden politischen Geistes gelten. Man erfuhr später,
daß in den Grenzboten und in den Preußischen Jahrbüchern einzelne der an¬
sprechendsten Beiträge literarhistorischen Inhaltes aus seiner Feder stammten.
Ein paar sehr fesselnde Vorträge, die er in Leipzig gehalten, waren von ihm
veröffentlicht. Sodann schrieb man ihm historische und publicistische Essays,
die tieferen Eindruck hervorgerufen, damals schon zu. 1863 unterzeichnete er
sich selbst als Verfasser einer historischen Skizze in den Preußischen Jahr¬
büchern über Wangen heim, die einen Einblick in eingehendere Studien
und in ein durch und durch eigenartig gereiftes Urtheil ihres Autors eröffnete.
Endlich, im Herbste 1864 gab er eine Sammlung von historischen und politi¬
schen Aufsätzen, vornehmlich zur "neuesten deutschen Geschichte" heraus, die
diesen schriftstellerischen Charakter zum ersten Male schärfer ausgeprägt zeigte,
und die in der großen Abhandlung über "Bundesstaat und Einheitsstaat"
jene politischen Tendenzen, denen bisher nur leise präludirt worden war, nun
zu mächtigem und feurigem Ausdrucke zusammenfaßte. Diese Publication
konnte damals fast ein Ereigniß genannt werden. Hier sprach ein nicht¬
preußischer Autor gerade heraus, ohne allen Rückhalt Gesinnungen aus, die
von Vielen im Stillen getheilt, die aber die Meisten so auszusprechen Anstand
nahmen. Die Märchenwelt des deutschen Particularismus schlug er in
Trümmer, ohne jegliches Bedenken. Die unklaren Borstellungen eines Bun-


Stimmung. Aber recht schüchtern und verschämt kommen diese ersten Symptome
heraus. Der Terrorismus der Parteimeinung erstickte meistens noch jede an¬
dere Regung. Offen für Bismarcks deutsche und auswärtige Politik Partei
nehmen, — nur ein „Streber", nur ein agere xrovoeateur schien so etwas
wagen zu dürfen.

Da im Herbste 1864 trat aus den Reihen der Liberalen ein junger
Schriftsteller heraus, der die That, vor der andere liberale Gesinnungsgenossen
noch zögernd stille gestanden, mit der größten Entschiedenheit und Offenheit
wagte, — Heinrich von Treitschke/ Als Privatdocent in Leipzig hatte
er vor Hunderten von Studenten seine liberale Gesinnung oft dargethan: die
sächsische Negierung würde ihm das Attest eines ihr sehr unliebsamen und
sehr unbequemen Liberalismus nicht haben versagen können; nur zu froh war
sie gewesen als er das Lehramt in Leipzig mit dem Freiburger vertauscht
hatte. Niemand durfte daran zweifeln, daß Treitschke ein Liberaler sei, —
auch wenn er jetzt in bedingter Weise für Bismarck eintrat.

Von schriftstellerischen Leistungen größeren Styles lag bis dahin nichts
Erhebliches vor. Ein Bändchen Gedichte (1856) hatte d»s patriotische Pathos,
die begeisterte Vaterlandsliebe des jungen Autors in hellerem Lichte als seine
poetische Begabung gezeigt. Eine Schrift über die Gesellschaftswissenschaft
(1869) durfte sich auch nicht großen Erfolges rühmen oder konnte nicht als
Zeugniß eines hervorragenden politischen Geistes gelten. Man erfuhr später,
daß in den Grenzboten und in den Preußischen Jahrbüchern einzelne der an¬
sprechendsten Beiträge literarhistorischen Inhaltes aus seiner Feder stammten.
Ein paar sehr fesselnde Vorträge, die er in Leipzig gehalten, waren von ihm
veröffentlicht. Sodann schrieb man ihm historische und publicistische Essays,
die tieferen Eindruck hervorgerufen, damals schon zu. 1863 unterzeichnete er
sich selbst als Verfasser einer historischen Skizze in den Preußischen Jahr¬
büchern über Wangen heim, die einen Einblick in eingehendere Studien
und in ein durch und durch eigenartig gereiftes Urtheil ihres Autors eröffnete.
Endlich, im Herbste 1864 gab er eine Sammlung von historischen und politi¬
schen Aufsätzen, vornehmlich zur „neuesten deutschen Geschichte" heraus, die
diesen schriftstellerischen Charakter zum ersten Male schärfer ausgeprägt zeigte,
und die in der großen Abhandlung über „Bundesstaat und Einheitsstaat"
jene politischen Tendenzen, denen bisher nur leise präludirt worden war, nun
zu mächtigem und feurigem Ausdrucke zusammenfaßte. Diese Publication
konnte damals fast ein Ereigniß genannt werden. Hier sprach ein nicht¬
preußischer Autor gerade heraus, ohne allen Rückhalt Gesinnungen aus, die
von Vielen im Stillen getheilt, die aber die Meisten so auszusprechen Anstand
nahmen. Die Märchenwelt des deutschen Particularismus schlug er in
Trümmer, ohne jegliches Bedenken. Die unklaren Borstellungen eines Bun-


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[0051] Stimmung. Aber recht schüchtern und verschämt kommen diese ersten Symptome heraus. Der Terrorismus der Parteimeinung erstickte meistens noch jede an¬ dere Regung. Offen für Bismarcks deutsche und auswärtige Politik Partei nehmen, — nur ein „Streber", nur ein agere xrovoeateur schien so etwas wagen zu dürfen. Da im Herbste 1864 trat aus den Reihen der Liberalen ein junger Schriftsteller heraus, der die That, vor der andere liberale Gesinnungsgenossen noch zögernd stille gestanden, mit der größten Entschiedenheit und Offenheit wagte, — Heinrich von Treitschke/ Als Privatdocent in Leipzig hatte er vor Hunderten von Studenten seine liberale Gesinnung oft dargethan: die sächsische Negierung würde ihm das Attest eines ihr sehr unliebsamen und sehr unbequemen Liberalismus nicht haben versagen können; nur zu froh war sie gewesen als er das Lehramt in Leipzig mit dem Freiburger vertauscht hatte. Niemand durfte daran zweifeln, daß Treitschke ein Liberaler sei, — auch wenn er jetzt in bedingter Weise für Bismarck eintrat. Von schriftstellerischen Leistungen größeren Styles lag bis dahin nichts Erhebliches vor. Ein Bändchen Gedichte (1856) hatte d»s patriotische Pathos, die begeisterte Vaterlandsliebe des jungen Autors in hellerem Lichte als seine poetische Begabung gezeigt. Eine Schrift über die Gesellschaftswissenschaft (1869) durfte sich auch nicht großen Erfolges rühmen oder konnte nicht als Zeugniß eines hervorragenden politischen Geistes gelten. Man erfuhr später, daß in den Grenzboten und in den Preußischen Jahrbüchern einzelne der an¬ sprechendsten Beiträge literarhistorischen Inhaltes aus seiner Feder stammten. Ein paar sehr fesselnde Vorträge, die er in Leipzig gehalten, waren von ihm veröffentlicht. Sodann schrieb man ihm historische und publicistische Essays, die tieferen Eindruck hervorgerufen, damals schon zu. 1863 unterzeichnete er sich selbst als Verfasser einer historischen Skizze in den Preußischen Jahr¬ büchern über Wangen heim, die einen Einblick in eingehendere Studien und in ein durch und durch eigenartig gereiftes Urtheil ihres Autors eröffnete. Endlich, im Herbste 1864 gab er eine Sammlung von historischen und politi¬ schen Aufsätzen, vornehmlich zur „neuesten deutschen Geschichte" heraus, die diesen schriftstellerischen Charakter zum ersten Male schärfer ausgeprägt zeigte, und die in der großen Abhandlung über „Bundesstaat und Einheitsstaat" jene politischen Tendenzen, denen bisher nur leise präludirt worden war, nun zu mächtigem und feurigem Ausdrucke zusammenfaßte. Diese Publication konnte damals fast ein Ereigniß genannt werden. Hier sprach ein nicht¬ preußischer Autor gerade heraus, ohne allen Rückhalt Gesinnungen aus, die von Vielen im Stillen getheilt, die aber die Meisten so auszusprechen Anstand nahmen. Die Märchenwelt des deutschen Particularismus schlug er in Trümmer, ohne jegliches Bedenken. Die unklaren Borstellungen eines Bun-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/51>, abgerufen am 22.12.2024.