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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Aber es war ein seltsames Schauspiel, den Staatslehrer, der zum ersten
Mal dem Conservatismus einen unwiderleglicher Gedankengehalt gegeben,
den rigoristischen Vertheidiger der Staatsmajestät gegen den Egoismus der
Gesellschaft, an der Spitze einer gesellschaftlichen Opposition gegen die An¬
forderungen des Staats zu sehen. Die Schaar der Opposition hielt den
Staat für ein Uebel, seine Last nur als ein Minimum erträglich; der Führer
konnte von Staatslast kaum genug bekommen, er predigte täglich, daß der
Staat nur noch Pflichten zu vergeben habe; ihm war die neue Last nur durch
ihre Gestalt und den Weg ihrer Auflegung anstößig. Aber so, wie er die
Last aufgelegt haben wollte, wäre sie ebenso drückend als nutzlos gewesen.
Er wollte eine Landwehr, ganz zusammengesetzt aus den reifen und wirk¬
samen Elementen der Gesellschaft, und doch ebenso seldtüchtig, ebenso technisch
wirksam und durchgebildet, wie die Linie. Dies ist eine ehrfurchtgebietende,
aber mit den Bedingungen des wirklichen Lebens nicht vereinbare Phantasie.
Um Ernst zu machen mit einer Landwehr in diesem Styl, müßten wir das
bürgerliche Leben in einem Grade mit dem kriegerischen Beruf durchdringen,
daß Rom und Sparta Idyllen dagegen wären. Das Wahrscheinlichere ist
aber, wie wir es erlebt haben, daß die Landwehr als selbständiger Truppen¬
körper auf die Dauer nicht seldtüchtig bleibt. Es ist daher besser, wie geschehen,
die aus Berufselementen gebildeten Rahmen des stehenden Heeres zu vermehren
um in diese, bei längerer Verpflichtung zum Eintritt in das stehende Heer
für die Mannschaft, im Nothfall auch die Landwehr, d. h. die letzten Jahr¬
gänge der Dienstpflichtigen als Ersatzreserve einzureihen, wenn nicht besondere
Umstände etwa die Formirung neuer Truppenkörper gebieten. Ein stehendes
Heer, dessen erste Jahrgänge die Söhne aller Staatsbürger ohne
Unterschied des Standes, dessen Reserve wiederum alle Staatsbürger
ohne Unterschied des Standes bis zu einem gewissen Alter bilden, bietet
genügsame Bürgschaft, daß es nicht entarte zu einer jedem Mißbrauch sich
darbietenden Soldateska.

Der parlamentarische Kampf, den Gneist für die Aufrechterhaltung der
Landwehr als selbständigen Heerkörpers geführt, und den die parlamentarische
Mannschaft nur stritt, um den Heeresaufwand soviel als möglich zu vermindern
oder einzuschränken, konnte nicht zum Siege führen. Er mußte aufgegeben
werden, als die bestrittene Heeresorganisation die Lorbeern aus dem böhmischen
Feldzug heimbrachte. Seitdem erst konnte der conservative Kern der Gneistschen
Staatslehre unverdunkelt hervortreten und den umbildenden Einfluß aus die
Gedanken der Zeitgenossen gewinnen. In dem Zeitpunkt, wo Gneist sein
politisches Gedankensystem zum theoretischen Abschluß und zur völligen Reife
der Form gebracht hatte, fielen dem deutschen Volke die äußeren Bedingungen
der Ausgabe zu, einen staatlichen Neubau aufzuführen, der dem deutschen Volks-


Aber es war ein seltsames Schauspiel, den Staatslehrer, der zum ersten
Mal dem Conservatismus einen unwiderleglicher Gedankengehalt gegeben,
den rigoristischen Vertheidiger der Staatsmajestät gegen den Egoismus der
Gesellschaft, an der Spitze einer gesellschaftlichen Opposition gegen die An¬
forderungen des Staats zu sehen. Die Schaar der Opposition hielt den
Staat für ein Uebel, seine Last nur als ein Minimum erträglich; der Führer
konnte von Staatslast kaum genug bekommen, er predigte täglich, daß der
Staat nur noch Pflichten zu vergeben habe; ihm war die neue Last nur durch
ihre Gestalt und den Weg ihrer Auflegung anstößig. Aber so, wie er die
Last aufgelegt haben wollte, wäre sie ebenso drückend als nutzlos gewesen.
Er wollte eine Landwehr, ganz zusammengesetzt aus den reifen und wirk¬
samen Elementen der Gesellschaft, und doch ebenso seldtüchtig, ebenso technisch
wirksam und durchgebildet, wie die Linie. Dies ist eine ehrfurchtgebietende,
aber mit den Bedingungen des wirklichen Lebens nicht vereinbare Phantasie.
Um Ernst zu machen mit einer Landwehr in diesem Styl, müßten wir das
bürgerliche Leben in einem Grade mit dem kriegerischen Beruf durchdringen,
daß Rom und Sparta Idyllen dagegen wären. Das Wahrscheinlichere ist
aber, wie wir es erlebt haben, daß die Landwehr als selbständiger Truppen¬
körper auf die Dauer nicht seldtüchtig bleibt. Es ist daher besser, wie geschehen,
die aus Berufselementen gebildeten Rahmen des stehenden Heeres zu vermehren
um in diese, bei längerer Verpflichtung zum Eintritt in das stehende Heer
für die Mannschaft, im Nothfall auch die Landwehr, d. h. die letzten Jahr¬
gänge der Dienstpflichtigen als Ersatzreserve einzureihen, wenn nicht besondere
Umstände etwa die Formirung neuer Truppenkörper gebieten. Ein stehendes
Heer, dessen erste Jahrgänge die Söhne aller Staatsbürger ohne
Unterschied des Standes, dessen Reserve wiederum alle Staatsbürger
ohne Unterschied des Standes bis zu einem gewissen Alter bilden, bietet
genügsame Bürgschaft, daß es nicht entarte zu einer jedem Mißbrauch sich
darbietenden Soldateska.

Der parlamentarische Kampf, den Gneist für die Aufrechterhaltung der
Landwehr als selbständigen Heerkörpers geführt, und den die parlamentarische
Mannschaft nur stritt, um den Heeresaufwand soviel als möglich zu vermindern
oder einzuschränken, konnte nicht zum Siege führen. Er mußte aufgegeben
werden, als die bestrittene Heeresorganisation die Lorbeern aus dem böhmischen
Feldzug heimbrachte. Seitdem erst konnte der conservative Kern der Gneistschen
Staatslehre unverdunkelt hervortreten und den umbildenden Einfluß aus die
Gedanken der Zeitgenossen gewinnen. In dem Zeitpunkt, wo Gneist sein
politisches Gedankensystem zum theoretischen Abschluß und zur völligen Reife
der Form gebracht hatte, fielen dem deutschen Volke die äußeren Bedingungen
der Ausgabe zu, einen staatlichen Neubau aufzuführen, der dem deutschen Volks-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/460>, abgerufen am 02.10.2024.