Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Heerkörper gesetzlich geordnet sei. Er gründete diesen Satz darauf, daß die
publicirten Cabinetsordres aus der Zeit des absoluten Staates Gesetzen gleich
zu achten seien. Er fand es den Staatsinstitutivnen zuwiderlaufend und ver¬
derblich, eine gesetzlich ausgebildete Institution, wie das Heer, durch bloße
Budgetbeschlüsse, das heißt durch Geldbewilligungen zu wechselnden Verwal¬
tungsmaßregeln, zu ändern und gleichsam gesetzlich wurzellos zu machen. Dies
war der eine Grund seiner Opposition, der sich auf die formale Seite der
Aenderung in der Heeresverfassung bezog. Aber er erhob noch weit lebhaf¬
teren Widerspruch gegen die inhaltliche Seite. Gneist sah in der preußischen
Landwehr den vollendetsten Ausdruck jener organischen Verbindung zwischen
Staat und Gesellschaft, die den Kern seiner eigenthümlichen Staatslehre aus¬
macht. Er sah in der Linie das Berufsheer, in der Landwehr das Heer aus
pflichtmäßiger Uebernahme der Vertheidigung nach dem Rufe des Gesetzes.
Er sah in der Landwehr den solidesten Kern der Vertheidigung, die nach alt-
römischsr Weise in die wankende Linie tritt, wenn die Kraft des Jünglings
versagt. Er sah die unerschütterliche Kraft der Landwehr darin, daß dieselbe
mit Bewußtsein für Haus und Heerd, für Familie und Volk, für alle heiligen
Güter des Staates, der Sitte, des Gesetzes, der nationalen Bildung und
Weltstellung kämpft. Er fand es unthunlich, diese verschiedenen Heerestheile
zu verschmelzen, weil die Vollbürger und Familienväter nicht zu den jugend¬
lichen Elementen des Berufsheeres passen, und ihre eigene, ihnen ebenbürtige
und verwandte Leitung beanspruchen. Er fand in der Landwehr auch die
Bürgschaft der Gesetze und der Staatsverfassung nach Innen. Durch ihre
bloße Existenz sollte die Landwehr den gesetzlichen Charakter der Institutionen
gegen Herrschaftslaune und einseitige Verwaltungszwecke verbürgen.

Die Reden, die Gneist als Oppositionsführer gegen die Umänderung der
Heeresverfassung gehalten, sind das Bedeutendste, was die parlamentarische
Beredsamkeit bisher in Deutschland geleistet hat, und gehören zu dem Besten,
was die Beredsamkeit bei den Völkern mit öffentlichem Staatsleben überhaupt
aufweist. Diese Reden sollten gesammelt und aufbewahrt werden, denn sie
sind immer wieder des Studiums werth. Es thut ihnen nicht den geringsten
Eintrag, daß sie in gewissem Sinne für ein Phantom kämpften, so wenig
die Reden des Demosthenes aufhören, ewige Muster der Beredsamkeit und
sogar der politischen Weisheit zu sein, weil für die Politik, die sie den Athe¬
nern empfahlen, dem damaligen Athen die wichtigsten Voraussetzungen ab¬
gingen. Ein Denker, ein Redner kann eine unsterbliche Wahrheit ins Licht
setzen und für diese Wahrheit ein irriges Beispiel vor Augen haben. Wenn
das Beispiel und seine Widerlegung vergessen ist, wird die Wahrheit um so
eifriger aufgenommen werden, wenn sie den rechten Boden berührt. Und wir
denken, für Gneist's Wahrheit ist jetzt der rechte Boden da.


Heerkörper gesetzlich geordnet sei. Er gründete diesen Satz darauf, daß die
publicirten Cabinetsordres aus der Zeit des absoluten Staates Gesetzen gleich
zu achten seien. Er fand es den Staatsinstitutivnen zuwiderlaufend und ver¬
derblich, eine gesetzlich ausgebildete Institution, wie das Heer, durch bloße
Budgetbeschlüsse, das heißt durch Geldbewilligungen zu wechselnden Verwal¬
tungsmaßregeln, zu ändern und gleichsam gesetzlich wurzellos zu machen. Dies
war der eine Grund seiner Opposition, der sich auf die formale Seite der
Aenderung in der Heeresverfassung bezog. Aber er erhob noch weit lebhaf¬
teren Widerspruch gegen die inhaltliche Seite. Gneist sah in der preußischen
Landwehr den vollendetsten Ausdruck jener organischen Verbindung zwischen
Staat und Gesellschaft, die den Kern seiner eigenthümlichen Staatslehre aus¬
macht. Er sah in der Linie das Berufsheer, in der Landwehr das Heer aus
pflichtmäßiger Uebernahme der Vertheidigung nach dem Rufe des Gesetzes.
Er sah in der Landwehr den solidesten Kern der Vertheidigung, die nach alt-
römischsr Weise in die wankende Linie tritt, wenn die Kraft des Jünglings
versagt. Er sah die unerschütterliche Kraft der Landwehr darin, daß dieselbe
mit Bewußtsein für Haus und Heerd, für Familie und Volk, für alle heiligen
Güter des Staates, der Sitte, des Gesetzes, der nationalen Bildung und
Weltstellung kämpft. Er fand es unthunlich, diese verschiedenen Heerestheile
zu verschmelzen, weil die Vollbürger und Familienväter nicht zu den jugend¬
lichen Elementen des Berufsheeres passen, und ihre eigene, ihnen ebenbürtige
und verwandte Leitung beanspruchen. Er fand in der Landwehr auch die
Bürgschaft der Gesetze und der Staatsverfassung nach Innen. Durch ihre
bloße Existenz sollte die Landwehr den gesetzlichen Charakter der Institutionen
gegen Herrschaftslaune und einseitige Verwaltungszwecke verbürgen.

Die Reden, die Gneist als Oppositionsführer gegen die Umänderung der
Heeresverfassung gehalten, sind das Bedeutendste, was die parlamentarische
Beredsamkeit bisher in Deutschland geleistet hat, und gehören zu dem Besten,
was die Beredsamkeit bei den Völkern mit öffentlichem Staatsleben überhaupt
aufweist. Diese Reden sollten gesammelt und aufbewahrt werden, denn sie
sind immer wieder des Studiums werth. Es thut ihnen nicht den geringsten
Eintrag, daß sie in gewissem Sinne für ein Phantom kämpften, so wenig
die Reden des Demosthenes aufhören, ewige Muster der Beredsamkeit und
sogar der politischen Weisheit zu sein, weil für die Politik, die sie den Athe¬
nern empfahlen, dem damaligen Athen die wichtigsten Voraussetzungen ab¬
gingen. Ein Denker, ein Redner kann eine unsterbliche Wahrheit ins Licht
setzen und für diese Wahrheit ein irriges Beispiel vor Augen haben. Wenn
das Beispiel und seine Widerlegung vergessen ist, wird die Wahrheit um so
eifriger aufgenommen werden, wenn sie den rechten Boden berührt. Und wir
denken, für Gneist's Wahrheit ist jetzt der rechte Boden da.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127867"/>
          <p xml:id="ID_1484" prev="#ID_1483"> Heerkörper gesetzlich geordnet sei. Er gründete diesen Satz darauf, daß die<lb/>
publicirten Cabinetsordres aus der Zeit des absoluten Staates Gesetzen gleich<lb/>
zu achten seien. Er fand es den Staatsinstitutivnen zuwiderlaufend und ver¬<lb/>
derblich, eine gesetzlich ausgebildete Institution, wie das Heer, durch bloße<lb/>
Budgetbeschlüsse, das heißt durch Geldbewilligungen zu wechselnden Verwal¬<lb/>
tungsmaßregeln, zu ändern und gleichsam gesetzlich wurzellos zu machen. Dies<lb/>
war der eine Grund seiner Opposition, der sich auf die formale Seite der<lb/>
Aenderung in der Heeresverfassung bezog. Aber er erhob noch weit lebhaf¬<lb/>
teren Widerspruch gegen die inhaltliche Seite. Gneist sah in der preußischen<lb/>
Landwehr den vollendetsten Ausdruck jener organischen Verbindung zwischen<lb/>
Staat und Gesellschaft, die den Kern seiner eigenthümlichen Staatslehre aus¬<lb/>
macht. Er sah in der Linie das Berufsheer, in der Landwehr das Heer aus<lb/>
pflichtmäßiger Uebernahme der Vertheidigung nach dem Rufe des Gesetzes.<lb/>
Er sah in der Landwehr den solidesten Kern der Vertheidigung, die nach alt-<lb/>
römischsr Weise in die wankende Linie tritt, wenn die Kraft des Jünglings<lb/>
versagt. Er sah die unerschütterliche Kraft der Landwehr darin, daß dieselbe<lb/>
mit Bewußtsein für Haus und Heerd, für Familie und Volk, für alle heiligen<lb/>
Güter des Staates, der Sitte, des Gesetzes, der nationalen Bildung und<lb/>
Weltstellung kämpft. Er fand es unthunlich, diese verschiedenen Heerestheile<lb/>
zu verschmelzen, weil die Vollbürger und Familienväter nicht zu den jugend¬<lb/>
lichen Elementen des Berufsheeres passen, und ihre eigene, ihnen ebenbürtige<lb/>
und verwandte Leitung beanspruchen. Er fand in der Landwehr auch die<lb/>
Bürgschaft der Gesetze und der Staatsverfassung nach Innen. Durch ihre<lb/>
bloße Existenz sollte die Landwehr den gesetzlichen Charakter der Institutionen<lb/>
gegen Herrschaftslaune und einseitige Verwaltungszwecke verbürgen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1485"> Die Reden, die Gneist als Oppositionsführer gegen die Umänderung der<lb/>
Heeresverfassung gehalten, sind das Bedeutendste, was die parlamentarische<lb/>
Beredsamkeit bisher in Deutschland geleistet hat, und gehören zu dem Besten,<lb/>
was die Beredsamkeit bei den Völkern mit öffentlichem Staatsleben überhaupt<lb/>
aufweist. Diese Reden sollten gesammelt und aufbewahrt werden, denn sie<lb/>
sind immer wieder des Studiums werth. Es thut ihnen nicht den geringsten<lb/>
Eintrag, daß sie in gewissem Sinne für ein Phantom kämpften, so wenig<lb/>
die Reden des Demosthenes aufhören, ewige Muster der Beredsamkeit und<lb/>
sogar der politischen Weisheit zu sein, weil für die Politik, die sie den Athe¬<lb/>
nern empfahlen, dem damaligen Athen die wichtigsten Voraussetzungen ab¬<lb/>
gingen. Ein Denker, ein Redner kann eine unsterbliche Wahrheit ins Licht<lb/>
setzen und für diese Wahrheit ein irriges Beispiel vor Augen haben. Wenn<lb/>
das Beispiel und seine Widerlegung vergessen ist, wird die Wahrheit um so<lb/>
eifriger aufgenommen werden, wenn sie den rechten Boden berührt. Und wir<lb/>
denken, für Gneist's Wahrheit ist jetzt der rechte Boden da.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0459] Heerkörper gesetzlich geordnet sei. Er gründete diesen Satz darauf, daß die publicirten Cabinetsordres aus der Zeit des absoluten Staates Gesetzen gleich zu achten seien. Er fand es den Staatsinstitutivnen zuwiderlaufend und ver¬ derblich, eine gesetzlich ausgebildete Institution, wie das Heer, durch bloße Budgetbeschlüsse, das heißt durch Geldbewilligungen zu wechselnden Verwal¬ tungsmaßregeln, zu ändern und gleichsam gesetzlich wurzellos zu machen. Dies war der eine Grund seiner Opposition, der sich auf die formale Seite der Aenderung in der Heeresverfassung bezog. Aber er erhob noch weit lebhaf¬ teren Widerspruch gegen die inhaltliche Seite. Gneist sah in der preußischen Landwehr den vollendetsten Ausdruck jener organischen Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft, die den Kern seiner eigenthümlichen Staatslehre aus¬ macht. Er sah in der Linie das Berufsheer, in der Landwehr das Heer aus pflichtmäßiger Uebernahme der Vertheidigung nach dem Rufe des Gesetzes. Er sah in der Landwehr den solidesten Kern der Vertheidigung, die nach alt- römischsr Weise in die wankende Linie tritt, wenn die Kraft des Jünglings versagt. Er sah die unerschütterliche Kraft der Landwehr darin, daß dieselbe mit Bewußtsein für Haus und Heerd, für Familie und Volk, für alle heiligen Güter des Staates, der Sitte, des Gesetzes, der nationalen Bildung und Weltstellung kämpft. Er fand es unthunlich, diese verschiedenen Heerestheile zu verschmelzen, weil die Vollbürger und Familienväter nicht zu den jugend¬ lichen Elementen des Berufsheeres passen, und ihre eigene, ihnen ebenbürtige und verwandte Leitung beanspruchen. Er fand in der Landwehr auch die Bürgschaft der Gesetze und der Staatsverfassung nach Innen. Durch ihre bloße Existenz sollte die Landwehr den gesetzlichen Charakter der Institutionen gegen Herrschaftslaune und einseitige Verwaltungszwecke verbürgen. Die Reden, die Gneist als Oppositionsführer gegen die Umänderung der Heeresverfassung gehalten, sind das Bedeutendste, was die parlamentarische Beredsamkeit bisher in Deutschland geleistet hat, und gehören zu dem Besten, was die Beredsamkeit bei den Völkern mit öffentlichem Staatsleben überhaupt aufweist. Diese Reden sollten gesammelt und aufbewahrt werden, denn sie sind immer wieder des Studiums werth. Es thut ihnen nicht den geringsten Eintrag, daß sie in gewissem Sinne für ein Phantom kämpften, so wenig die Reden des Demosthenes aufhören, ewige Muster der Beredsamkeit und sogar der politischen Weisheit zu sein, weil für die Politik, die sie den Athe¬ nern empfahlen, dem damaligen Athen die wichtigsten Voraussetzungen ab¬ gingen. Ein Denker, ein Redner kann eine unsterbliche Wahrheit ins Licht setzen und für diese Wahrheit ein irriges Beispiel vor Augen haben. Wenn das Beispiel und seine Widerlegung vergessen ist, wird die Wahrheit um so eifriger aufgenommen werden, wenn sie den rechten Boden berührt. Und wir denken, für Gneist's Wahrheit ist jetzt der rechte Boden da.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/459
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/459>, abgerufen am 22.07.2024.