Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

worrenen Vorstellungen der Alltagskinder zerschneidenden Denkens. Da kommt
denn manchmal ein Blitz, der auf ein den Zuhörern werthes Bild ein er¬
habenes Licht wirft, wodurch allgemeiner Jubel entsteht. Dann kommt wieder
ein Blitz, der eine Lieblingsvorstellung des Publicums höchst unheimlich be¬
leuchtet; dann entsteht Verlegenheit, Enttäuschung, nach Umständen auch
Aufregung und Wuth derer, die sich mit Recht oder Unrecht getroffen fühlen.
Während seiner ganzen Laufbahn als politischer Redner hat Gneist Tage
gehabt und gewöhnlich in den Reden, die sich zur höchsten Wirkung anließen,
wo er diesem Schicksal nicht entging. Damals, wo er zum ersten Mal
öffentlich sprach, hatte er eine sehr lärmende Zuhörerschaar vor sich, deren
Durst nach revolutionärer Praxis nicht durch Aussicht aus weittragende Ent¬
wicklung beschwichtigt, sondern durch blutdürstige Lyrik angefacht oder auch
getäuscht sein wollte. Da sagte der Redner ungefähr: "Wenn Sie nicht
hören können, in welchem Geiste der Mann, den Sie zum Abgeordneten
wählen wollen, am Aufbau des Staates mitarbeiten und bezüglich mitleiden
will, so senden sie einen Mann auf die Barrikade." Das war ein ironischer
Streich gegen Roheit der Zuhörer oder eines Theiles davon. Aber damals
hatte Niemand Ruhe und Freiheit des Urtheils, um ironische Wendungen zu
begreifen. An dem damaligen Begriffsvermögen haftete nur die Aufforderung,
einen Mann lieber auf die Barrikade als ins Parlament zu senden. Wenn
die Barrikade wie Makbeths Dolch in der Luft schwebt, vor den Augen der
Aengstlichen wie der Revolutionslüsternen, da ist es gefährlich, das Gespenst
zu citiren. Die Aengstlichen hassen den Beschwörer und die Lüsternen jubeln
ihm zu, der beide doch nur nüchtern machen wollte.

Das damalige Fieber war erloschen und das Bestandene richtete sich
wieder auf, wahrlich nicht durch das Geschick seiner Vertheidiger. Wenn ein
Fiebernder erwacht, legt er sich in das gewohnte Bett, das der Erste Beste
ihm wieder zurecht gemacht hat. Aber dies ist kein Verdienst des Ersten Besten.

Auf Gneist haftete in gewissen Kreisen lange der Verdacht eines schlimmen
Revolutionärs. Er hatte sich als Stadtverordneter bis dahin eifrig der Ge¬
meindeverwaltung gewidmet. Zehn Jahre lang hatte er nun Zeit, fern von
Madrid, dem Schooße der Väter Berlins, darüber nachzudenken, daß man in
pathologischen Zeiten nicht ironisch sein darf. Während den Berlinern der Rausch
verflog, fand er besseres Gehör mit einer Schilderung der Zeit vom 18. März 1848
bis zum 18. März 1849 in der preußischen Hauptstadt unter dem Titel: "Berliner
Zustände", voll der gesundesten Beobachtung und der freiesten Ironie. Sogar vor
Varnhagens gallensüchtigem Urtheil fand diese Schrift Gnade. Wer einen Blick
hineinwirft, weiß, daß ihr Verfasser nicht einmal im Präexistenzzustande Demokrat
und Revolutionär gewesen sein kann. In demselben Jahre 1849 folgte eine
Schrift über die Geschworenengerichte. 185?. erschien eine kleine Arbeit: "Adel


worrenen Vorstellungen der Alltagskinder zerschneidenden Denkens. Da kommt
denn manchmal ein Blitz, der auf ein den Zuhörern werthes Bild ein er¬
habenes Licht wirft, wodurch allgemeiner Jubel entsteht. Dann kommt wieder
ein Blitz, der eine Lieblingsvorstellung des Publicums höchst unheimlich be¬
leuchtet; dann entsteht Verlegenheit, Enttäuschung, nach Umständen auch
Aufregung und Wuth derer, die sich mit Recht oder Unrecht getroffen fühlen.
Während seiner ganzen Laufbahn als politischer Redner hat Gneist Tage
gehabt und gewöhnlich in den Reden, die sich zur höchsten Wirkung anließen,
wo er diesem Schicksal nicht entging. Damals, wo er zum ersten Mal
öffentlich sprach, hatte er eine sehr lärmende Zuhörerschaar vor sich, deren
Durst nach revolutionärer Praxis nicht durch Aussicht aus weittragende Ent¬
wicklung beschwichtigt, sondern durch blutdürstige Lyrik angefacht oder auch
getäuscht sein wollte. Da sagte der Redner ungefähr: „Wenn Sie nicht
hören können, in welchem Geiste der Mann, den Sie zum Abgeordneten
wählen wollen, am Aufbau des Staates mitarbeiten und bezüglich mitleiden
will, so senden sie einen Mann auf die Barrikade." Das war ein ironischer
Streich gegen Roheit der Zuhörer oder eines Theiles davon. Aber damals
hatte Niemand Ruhe und Freiheit des Urtheils, um ironische Wendungen zu
begreifen. An dem damaligen Begriffsvermögen haftete nur die Aufforderung,
einen Mann lieber auf die Barrikade als ins Parlament zu senden. Wenn
die Barrikade wie Makbeths Dolch in der Luft schwebt, vor den Augen der
Aengstlichen wie der Revolutionslüsternen, da ist es gefährlich, das Gespenst
zu citiren. Die Aengstlichen hassen den Beschwörer und die Lüsternen jubeln
ihm zu, der beide doch nur nüchtern machen wollte.

Das damalige Fieber war erloschen und das Bestandene richtete sich
wieder auf, wahrlich nicht durch das Geschick seiner Vertheidiger. Wenn ein
Fiebernder erwacht, legt er sich in das gewohnte Bett, das der Erste Beste
ihm wieder zurecht gemacht hat. Aber dies ist kein Verdienst des Ersten Besten.

Auf Gneist haftete in gewissen Kreisen lange der Verdacht eines schlimmen
Revolutionärs. Er hatte sich als Stadtverordneter bis dahin eifrig der Ge¬
meindeverwaltung gewidmet. Zehn Jahre lang hatte er nun Zeit, fern von
Madrid, dem Schooße der Väter Berlins, darüber nachzudenken, daß man in
pathologischen Zeiten nicht ironisch sein darf. Während den Berlinern der Rausch
verflog, fand er besseres Gehör mit einer Schilderung der Zeit vom 18. März 1848
bis zum 18. März 1849 in der preußischen Hauptstadt unter dem Titel: „Berliner
Zustände", voll der gesundesten Beobachtung und der freiesten Ironie. Sogar vor
Varnhagens gallensüchtigem Urtheil fand diese Schrift Gnade. Wer einen Blick
hineinwirft, weiß, daß ihr Verfasser nicht einmal im Präexistenzzustande Demokrat
und Revolutionär gewesen sein kann. In demselben Jahre 1849 folgte eine
Schrift über die Geschworenengerichte. 185?. erschien eine kleine Arbeit: „Adel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127863"/>
          <p xml:id="ID_1473" prev="#ID_1472"> worrenen Vorstellungen der Alltagskinder zerschneidenden Denkens. Da kommt<lb/>
denn manchmal ein Blitz, der auf ein den Zuhörern werthes Bild ein er¬<lb/>
habenes Licht wirft, wodurch allgemeiner Jubel entsteht. Dann kommt wieder<lb/>
ein Blitz, der eine Lieblingsvorstellung des Publicums höchst unheimlich be¬<lb/>
leuchtet; dann entsteht Verlegenheit, Enttäuschung, nach Umständen auch<lb/>
Aufregung und Wuth derer, die sich mit Recht oder Unrecht getroffen fühlen.<lb/>
Während seiner ganzen Laufbahn als politischer Redner hat Gneist Tage<lb/>
gehabt und gewöhnlich in den Reden, die sich zur höchsten Wirkung anließen,<lb/>
wo er diesem Schicksal nicht entging. Damals, wo er zum ersten Mal<lb/>
öffentlich sprach, hatte er eine sehr lärmende Zuhörerschaar vor sich, deren<lb/>
Durst nach revolutionärer Praxis nicht durch Aussicht aus weittragende Ent¬<lb/>
wicklung beschwichtigt, sondern durch blutdürstige Lyrik angefacht oder auch<lb/>
getäuscht sein wollte. Da sagte der Redner ungefähr: &#x201E;Wenn Sie nicht<lb/>
hören können, in welchem Geiste der Mann, den Sie zum Abgeordneten<lb/>
wählen wollen, am Aufbau des Staates mitarbeiten und bezüglich mitleiden<lb/>
will, so senden sie einen Mann auf die Barrikade." Das war ein ironischer<lb/>
Streich gegen Roheit der Zuhörer oder eines Theiles davon. Aber damals<lb/>
hatte Niemand Ruhe und Freiheit des Urtheils, um ironische Wendungen zu<lb/>
begreifen. An dem damaligen Begriffsvermögen haftete nur die Aufforderung,<lb/>
einen Mann lieber auf die Barrikade als ins Parlament zu senden. Wenn<lb/>
die Barrikade wie Makbeths Dolch in der Luft schwebt, vor den Augen der<lb/>
Aengstlichen wie der Revolutionslüsternen, da ist es gefährlich, das Gespenst<lb/>
zu citiren. Die Aengstlichen hassen den Beschwörer und die Lüsternen jubeln<lb/>
ihm zu, der beide doch nur nüchtern machen wollte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1474"> Das damalige Fieber war erloschen und das Bestandene richtete sich<lb/>
wieder auf, wahrlich nicht durch das Geschick seiner Vertheidiger. Wenn ein<lb/>
Fiebernder erwacht, legt er sich in das gewohnte Bett, das der Erste Beste<lb/>
ihm wieder zurecht gemacht hat. Aber dies ist kein Verdienst des Ersten Besten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1475" next="#ID_1476"> Auf Gneist haftete in gewissen Kreisen lange der Verdacht eines schlimmen<lb/>
Revolutionärs. Er hatte sich als Stadtverordneter bis dahin eifrig der Ge¬<lb/>
meindeverwaltung gewidmet. Zehn Jahre lang hatte er nun Zeit, fern von<lb/>
Madrid, dem Schooße der Väter Berlins, darüber nachzudenken, daß man in<lb/>
pathologischen Zeiten nicht ironisch sein darf. Während den Berlinern der Rausch<lb/>
verflog, fand er besseres Gehör mit einer Schilderung der Zeit vom 18. März 1848<lb/>
bis zum 18. März 1849 in der preußischen Hauptstadt unter dem Titel: &#x201E;Berliner<lb/>
Zustände", voll der gesundesten Beobachtung und der freiesten Ironie. Sogar vor<lb/>
Varnhagens gallensüchtigem Urtheil fand diese Schrift Gnade. Wer einen Blick<lb/>
hineinwirft, weiß, daß ihr Verfasser nicht einmal im Präexistenzzustande Demokrat<lb/>
und Revolutionär gewesen sein kann. In demselben Jahre 1849 folgte eine<lb/>
Schrift über die Geschworenengerichte.  185?. erschien eine kleine Arbeit: &#x201E;Adel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0455] worrenen Vorstellungen der Alltagskinder zerschneidenden Denkens. Da kommt denn manchmal ein Blitz, der auf ein den Zuhörern werthes Bild ein er¬ habenes Licht wirft, wodurch allgemeiner Jubel entsteht. Dann kommt wieder ein Blitz, der eine Lieblingsvorstellung des Publicums höchst unheimlich be¬ leuchtet; dann entsteht Verlegenheit, Enttäuschung, nach Umständen auch Aufregung und Wuth derer, die sich mit Recht oder Unrecht getroffen fühlen. Während seiner ganzen Laufbahn als politischer Redner hat Gneist Tage gehabt und gewöhnlich in den Reden, die sich zur höchsten Wirkung anließen, wo er diesem Schicksal nicht entging. Damals, wo er zum ersten Mal öffentlich sprach, hatte er eine sehr lärmende Zuhörerschaar vor sich, deren Durst nach revolutionärer Praxis nicht durch Aussicht aus weittragende Ent¬ wicklung beschwichtigt, sondern durch blutdürstige Lyrik angefacht oder auch getäuscht sein wollte. Da sagte der Redner ungefähr: „Wenn Sie nicht hören können, in welchem Geiste der Mann, den Sie zum Abgeordneten wählen wollen, am Aufbau des Staates mitarbeiten und bezüglich mitleiden will, so senden sie einen Mann auf die Barrikade." Das war ein ironischer Streich gegen Roheit der Zuhörer oder eines Theiles davon. Aber damals hatte Niemand Ruhe und Freiheit des Urtheils, um ironische Wendungen zu begreifen. An dem damaligen Begriffsvermögen haftete nur die Aufforderung, einen Mann lieber auf die Barrikade als ins Parlament zu senden. Wenn die Barrikade wie Makbeths Dolch in der Luft schwebt, vor den Augen der Aengstlichen wie der Revolutionslüsternen, da ist es gefährlich, das Gespenst zu citiren. Die Aengstlichen hassen den Beschwörer und die Lüsternen jubeln ihm zu, der beide doch nur nüchtern machen wollte. Das damalige Fieber war erloschen und das Bestandene richtete sich wieder auf, wahrlich nicht durch das Geschick seiner Vertheidiger. Wenn ein Fiebernder erwacht, legt er sich in das gewohnte Bett, das der Erste Beste ihm wieder zurecht gemacht hat. Aber dies ist kein Verdienst des Ersten Besten. Auf Gneist haftete in gewissen Kreisen lange der Verdacht eines schlimmen Revolutionärs. Er hatte sich als Stadtverordneter bis dahin eifrig der Ge¬ meindeverwaltung gewidmet. Zehn Jahre lang hatte er nun Zeit, fern von Madrid, dem Schooße der Väter Berlins, darüber nachzudenken, daß man in pathologischen Zeiten nicht ironisch sein darf. Während den Berlinern der Rausch verflog, fand er besseres Gehör mit einer Schilderung der Zeit vom 18. März 1848 bis zum 18. März 1849 in der preußischen Hauptstadt unter dem Titel: „Berliner Zustände", voll der gesundesten Beobachtung und der freiesten Ironie. Sogar vor Varnhagens gallensüchtigem Urtheil fand diese Schrift Gnade. Wer einen Blick hineinwirft, weiß, daß ihr Verfasser nicht einmal im Präexistenzzustande Demokrat und Revolutionär gewesen sein kann. In demselben Jahre 1849 folgte eine Schrift über die Geschworenengerichte. 185?. erschien eine kleine Arbeit: „Adel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/455
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/455>, abgerufen am 22.12.2024.