Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gestalten. Dann hat er auch dem neueren preußischen und deutschen Staats¬
recht in den letzten Jahren selbstständige Vorlesungen gewidmet.

Gneist war seit Beginn seiner akademischen Laufbahn ein sehr wirksamer
und im Sinne der Studenten sehr praktischer Docent. Er wußte die Haupt¬
sachen in zugänglicher Klarheit und einprägender Übersichtlichkeit zu geben,
und doch behielten seine Vorlesungen durch ihre systematische Vollendung und
die auf dem Katheder zwar nur gelegentlich durchblickenden tieferen Gesichts¬
punkte einen wissenschaftlichen Charakter.

Wenn so das didaktisch-pädagogische Talent Gneist zur allseitigen Be¬
herrschung des juristischen Lehrstoffs zu drängen schien, so zeigten seine
späteren umfassenden Werke dem Publicum und seine Lieblingsvorlesungen,
diejenigen nämlich über das öffentliche Recht der modernen Völker, es
schon eher seinen Schülern, daß der Lehrer darum nach einer universalen
Beherrschung des juristischen Wissens gestrebt hatte, weil er sie zu dem Gebiet
seiner Originalstudien bedürfte. Denn im öffentlichen Recht laufen die übrigen
Rechtsgebiete zusammen, und zu dem Staatsrecht der neueren Volker haben
die römische und die germanische Nechtsentwickelung die Bausteine geliefert.

Gneist begann, wie es einem wahren deutschen Gelehrten unvermeidlich
ist, seine schriftstellerische Laufbahn mit einer antiquarischen Schrift über alt¬
griechisches Recht. Er war in Folge dessen und auf Grund seiner Erfolge
als Lehrer außerordentlicher Professor geworden, als das Jahr 1848 kam.
Der Paroxysmus jenes Sommers neigte sich bereits zum Ende, als Gneist
zum Candidaten für die preußische Nationalversammlung traurigen Andenkens
in Berlin aufgestellt wurde. Wer damals überhaupt gehört sein wollte,
mußte an den herrschenden Fetisch der Volkssouveränität anknüpfen, er mochte
übrigens so conservativ denken wie er wollte. Der eonservativste Denker
hätte sich an die Partei, welche das Bestandene repräsentirte, nicht anschließen
können, die aller gesunden, aller ers alterten Gedanken von allen Parteien
am meisten baar und ledig war. So sprach denn auch Gneist als Demokrat,
in einem Sinne freilich, wie auch Schiller es gekonnt hätte mit dem Distichon
im Munde: "Majestät der Menschennatur, dich soll ich beim Haufen suchen?
u. s. w." Es kommt nur darauf an, was man unter Demos versteht: die
"Treffer" oder die "nieder" oder die Treffer und nieder in die richtige
Stellung zu einander gebracht.

Es begegnete jedoch Gneist bei dieser Candidatenrede vor einem demo¬
kratischen Publicum ein Zufall, der seine Bewerbung vereitelte. Es giebt
Zufälle, die ihren wahren Grund in der innersten Individualität haben und
deshalb eine immer wieder erscheinende Begleitung der Individuen bilden,
aus deren Natur sie entspringen, während mancher Kurzsichtige sich über solche
Bosheit des Zufalls wundert. Gneist spricht mit der Parrhesie eines die ver-


gestalten. Dann hat er auch dem neueren preußischen und deutschen Staats¬
recht in den letzten Jahren selbstständige Vorlesungen gewidmet.

Gneist war seit Beginn seiner akademischen Laufbahn ein sehr wirksamer
und im Sinne der Studenten sehr praktischer Docent. Er wußte die Haupt¬
sachen in zugänglicher Klarheit und einprägender Übersichtlichkeit zu geben,
und doch behielten seine Vorlesungen durch ihre systematische Vollendung und
die auf dem Katheder zwar nur gelegentlich durchblickenden tieferen Gesichts¬
punkte einen wissenschaftlichen Charakter.

Wenn so das didaktisch-pädagogische Talent Gneist zur allseitigen Be¬
herrschung des juristischen Lehrstoffs zu drängen schien, so zeigten seine
späteren umfassenden Werke dem Publicum und seine Lieblingsvorlesungen,
diejenigen nämlich über das öffentliche Recht der modernen Völker, es
schon eher seinen Schülern, daß der Lehrer darum nach einer universalen
Beherrschung des juristischen Wissens gestrebt hatte, weil er sie zu dem Gebiet
seiner Originalstudien bedürfte. Denn im öffentlichen Recht laufen die übrigen
Rechtsgebiete zusammen, und zu dem Staatsrecht der neueren Volker haben
die römische und die germanische Nechtsentwickelung die Bausteine geliefert.

Gneist begann, wie es einem wahren deutschen Gelehrten unvermeidlich
ist, seine schriftstellerische Laufbahn mit einer antiquarischen Schrift über alt¬
griechisches Recht. Er war in Folge dessen und auf Grund seiner Erfolge
als Lehrer außerordentlicher Professor geworden, als das Jahr 1848 kam.
Der Paroxysmus jenes Sommers neigte sich bereits zum Ende, als Gneist
zum Candidaten für die preußische Nationalversammlung traurigen Andenkens
in Berlin aufgestellt wurde. Wer damals überhaupt gehört sein wollte,
mußte an den herrschenden Fetisch der Volkssouveränität anknüpfen, er mochte
übrigens so conservativ denken wie er wollte. Der eonservativste Denker
hätte sich an die Partei, welche das Bestandene repräsentirte, nicht anschließen
können, die aller gesunden, aller ers alterten Gedanken von allen Parteien
am meisten baar und ledig war. So sprach denn auch Gneist als Demokrat,
in einem Sinne freilich, wie auch Schiller es gekonnt hätte mit dem Distichon
im Munde: „Majestät der Menschennatur, dich soll ich beim Haufen suchen?
u. s. w." Es kommt nur darauf an, was man unter Demos versteht: die
„Treffer" oder die „nieder" oder die Treffer und nieder in die richtige
Stellung zu einander gebracht.

Es begegnete jedoch Gneist bei dieser Candidatenrede vor einem demo¬
kratischen Publicum ein Zufall, der seine Bewerbung vereitelte. Es giebt
Zufälle, die ihren wahren Grund in der innersten Individualität haben und
deshalb eine immer wieder erscheinende Begleitung der Individuen bilden,
aus deren Natur sie entspringen, während mancher Kurzsichtige sich über solche
Bosheit des Zufalls wundert. Gneist spricht mit der Parrhesie eines die ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0454" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127862"/>
          <p xml:id="ID_1468" prev="#ID_1467"> gestalten. Dann hat er auch dem neueren preußischen und deutschen Staats¬<lb/>
recht in den letzten Jahren selbstständige Vorlesungen gewidmet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1469"> Gneist war seit Beginn seiner akademischen Laufbahn ein sehr wirksamer<lb/>
und im Sinne der Studenten sehr praktischer Docent. Er wußte die Haupt¬<lb/>
sachen in zugänglicher Klarheit und einprägender Übersichtlichkeit zu geben,<lb/>
und doch behielten seine Vorlesungen durch ihre systematische Vollendung und<lb/>
die auf dem Katheder zwar nur gelegentlich durchblickenden tieferen Gesichts¬<lb/>
punkte einen wissenschaftlichen Charakter.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1470"> Wenn so das didaktisch-pädagogische Talent Gneist zur allseitigen Be¬<lb/>
herrschung des juristischen Lehrstoffs zu drängen schien, so zeigten seine<lb/>
späteren umfassenden Werke dem Publicum und seine Lieblingsvorlesungen,<lb/>
diejenigen nämlich über das öffentliche Recht der modernen Völker, es<lb/>
schon eher seinen Schülern, daß der Lehrer darum nach einer universalen<lb/>
Beherrschung des juristischen Wissens gestrebt hatte, weil er sie zu dem Gebiet<lb/>
seiner Originalstudien bedürfte. Denn im öffentlichen Recht laufen die übrigen<lb/>
Rechtsgebiete zusammen, und zu dem Staatsrecht der neueren Volker haben<lb/>
die römische und die germanische Nechtsentwickelung die Bausteine geliefert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1471"> Gneist begann, wie es einem wahren deutschen Gelehrten unvermeidlich<lb/>
ist, seine schriftstellerische Laufbahn mit einer antiquarischen Schrift über alt¬<lb/>
griechisches Recht. Er war in Folge dessen und auf Grund seiner Erfolge<lb/>
als Lehrer außerordentlicher Professor geworden, als das Jahr 1848 kam.<lb/>
Der Paroxysmus jenes Sommers neigte sich bereits zum Ende, als Gneist<lb/>
zum Candidaten für die preußische Nationalversammlung traurigen Andenkens<lb/>
in Berlin aufgestellt wurde. Wer damals überhaupt gehört sein wollte,<lb/>
mußte an den herrschenden Fetisch der Volkssouveränität anknüpfen, er mochte<lb/>
übrigens so conservativ denken wie er wollte. Der eonservativste Denker<lb/>
hätte sich an die Partei, welche das Bestandene repräsentirte, nicht anschließen<lb/>
können, die aller gesunden, aller ers alterten Gedanken von allen Parteien<lb/>
am meisten baar und ledig war. So sprach denn auch Gneist als Demokrat,<lb/>
in einem Sinne freilich, wie auch Schiller es gekonnt hätte mit dem Distichon<lb/>
im Munde: &#x201E;Majestät der Menschennatur, dich soll ich beim Haufen suchen?<lb/>
u. s. w." Es kommt nur darauf an, was man unter Demos versteht: die<lb/>
&#x201E;Treffer" oder die &#x201E;nieder" oder die Treffer und nieder in die richtige<lb/>
Stellung zu einander gebracht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1472" next="#ID_1473"> Es begegnete jedoch Gneist bei dieser Candidatenrede vor einem demo¬<lb/>
kratischen Publicum ein Zufall, der seine Bewerbung vereitelte. Es giebt<lb/>
Zufälle, die ihren wahren Grund in der innersten Individualität haben und<lb/>
deshalb eine immer wieder erscheinende Begleitung der Individuen bilden,<lb/>
aus deren Natur sie entspringen, während mancher Kurzsichtige sich über solche<lb/>
Bosheit des Zufalls wundert.  Gneist spricht mit der Parrhesie eines die ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0454] gestalten. Dann hat er auch dem neueren preußischen und deutschen Staats¬ recht in den letzten Jahren selbstständige Vorlesungen gewidmet. Gneist war seit Beginn seiner akademischen Laufbahn ein sehr wirksamer und im Sinne der Studenten sehr praktischer Docent. Er wußte die Haupt¬ sachen in zugänglicher Klarheit und einprägender Übersichtlichkeit zu geben, und doch behielten seine Vorlesungen durch ihre systematische Vollendung und die auf dem Katheder zwar nur gelegentlich durchblickenden tieferen Gesichts¬ punkte einen wissenschaftlichen Charakter. Wenn so das didaktisch-pädagogische Talent Gneist zur allseitigen Be¬ herrschung des juristischen Lehrstoffs zu drängen schien, so zeigten seine späteren umfassenden Werke dem Publicum und seine Lieblingsvorlesungen, diejenigen nämlich über das öffentliche Recht der modernen Völker, es schon eher seinen Schülern, daß der Lehrer darum nach einer universalen Beherrschung des juristischen Wissens gestrebt hatte, weil er sie zu dem Gebiet seiner Originalstudien bedürfte. Denn im öffentlichen Recht laufen die übrigen Rechtsgebiete zusammen, und zu dem Staatsrecht der neueren Volker haben die römische und die germanische Nechtsentwickelung die Bausteine geliefert. Gneist begann, wie es einem wahren deutschen Gelehrten unvermeidlich ist, seine schriftstellerische Laufbahn mit einer antiquarischen Schrift über alt¬ griechisches Recht. Er war in Folge dessen und auf Grund seiner Erfolge als Lehrer außerordentlicher Professor geworden, als das Jahr 1848 kam. Der Paroxysmus jenes Sommers neigte sich bereits zum Ende, als Gneist zum Candidaten für die preußische Nationalversammlung traurigen Andenkens in Berlin aufgestellt wurde. Wer damals überhaupt gehört sein wollte, mußte an den herrschenden Fetisch der Volkssouveränität anknüpfen, er mochte übrigens so conservativ denken wie er wollte. Der eonservativste Denker hätte sich an die Partei, welche das Bestandene repräsentirte, nicht anschließen können, die aller gesunden, aller ers alterten Gedanken von allen Parteien am meisten baar und ledig war. So sprach denn auch Gneist als Demokrat, in einem Sinne freilich, wie auch Schiller es gekonnt hätte mit dem Distichon im Munde: „Majestät der Menschennatur, dich soll ich beim Haufen suchen? u. s. w." Es kommt nur darauf an, was man unter Demos versteht: die „Treffer" oder die „nieder" oder die Treffer und nieder in die richtige Stellung zu einander gebracht. Es begegnete jedoch Gneist bei dieser Candidatenrede vor einem demo¬ kratischen Publicum ein Zufall, der seine Bewerbung vereitelte. Es giebt Zufälle, die ihren wahren Grund in der innersten Individualität haben und deshalb eine immer wieder erscheinende Begleitung der Individuen bilden, aus deren Natur sie entspringen, während mancher Kurzsichtige sich über solche Bosheit des Zufalls wundert. Gneist spricht mit der Parrhesie eines die ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/454
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/454>, abgerufen am 03.07.2024.