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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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ein Jahrzehnt früher als die meisten anderen Klein- und Mittelstaaten.
Als öffentliche Mißbilligungen und wiederholte Auflösungen der Ständever¬
sammlung nicht verfingen, erfand die Staatsregierung das sogenannte N ecu-
sationsrecht, mit dessen Hülfe sie im Jahre 1840 die gewählten Abge¬
ordneten, von denen sich eine "Erneuerung des bisherigen Unfriedens" besorgen
ließ, einfach zurückwies und an ihrer Statt Männer zum Landtage einberief,
die nicht gewählt waren, aber einige Wahlstimmen erhalten hatten. Mit
dieser Maßregel war ein Zustand grenzenloser Verwirrung heraufbeschworen:
die Wahlmänner, die Gewählten, die Einberufenen protestirten, ein Theil der
Letzteren lehnte den Eintritt ab, Andere traten nur ein, um zu verhindern,
daß die Versammlung sich die Befugnisse einer wirklichen Landesvertretung
anmaße. Als nach Monaten die mürbe gewordene Mehrheit sich doch dazu
herbeilassen wollte, die Etats festzustellen und die Steuern zu verwilligen,
erklärten die Anderen ihren Austritt. Von den eiligst einberufenen Ersatz¬
männern leisteten die meisten, auch Friedrich Rückert als Rittergutsbesitzer zu
Neuses, dem Rufe keine Folge. Der kleine, nothdürftig beschlußfähige Nest
der Versammlung wurde im Mai 1842 in seiner Arbeit durch den Tod des¬
jenigen Mitglieds unterbrochen, welches es über sich gewonnen hatte, den Sitz
des recusirten Deputirten der Hauptstadt, David Sartorius, und seines
ebenfalls recusirten Stellvertreters einzunehmen.

Von jetzt ab tritt Moriz Briegleb in den Vordergrund der Be¬
wegung. Den biederen Sartorius, gegen den das Recusationsrecht vor¬
zugsweise ersonnen worden war, hatte ebenfalls ein rascher Tod mitten aus
rüstiger Mannesthätigkeit abgerufen; sein gegebener Nachfolger war Briegleb,
auf welchen denn auch im Juli 1842 fast alle Wahlstimmen fielen. Mochte
auch die Negierung schicklicher Weise den "neuen Mann" nicht ganz "recusiren",
so sollte er wenigstens für die bevorstehenden Etatsarbeiten un¬
schädlich gemacht werden. Darum wurden im September die Stände einst¬
weilen ohne ihn berufen. Wie scharf er auch protestirte, wie dringlich auch
der Landtag selbst die Einberufung Briegleb's verlangte, seine Verpflich¬
tung und Einführung erfolgte erst nach der Etatsgenehmi¬
gung.

Die Aussicht, zum Landschaftssecretär gewählt zu werden, gab ihm bald
Veranlassung zur Darlegung seiner Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der
Versammlung. "Um Deputirter zu bleiben, genügt mir die Gültigkeit
meiner Wahl; aber um ein Chargirter dieser Versammlung zu sein, muß
ich auch die Vollmachten der übrigen Herren in Richtigkeit wissen." Unter
dem Eindrucke seiner Rede faßte die sonderbare Versammlung den förmlichen
Beschluß, sich bis auf'Weiteres aller Thätigkeit zu enthalten; zu einem ehren¬
haften Austritt konnte sich der Nest der ungesetzlich Berufenen auch jetzt nicht


ein Jahrzehnt früher als die meisten anderen Klein- und Mittelstaaten.
Als öffentliche Mißbilligungen und wiederholte Auflösungen der Ständever¬
sammlung nicht verfingen, erfand die Staatsregierung das sogenannte N ecu-
sationsrecht, mit dessen Hülfe sie im Jahre 1840 die gewählten Abge¬
ordneten, von denen sich eine „Erneuerung des bisherigen Unfriedens" besorgen
ließ, einfach zurückwies und an ihrer Statt Männer zum Landtage einberief,
die nicht gewählt waren, aber einige Wahlstimmen erhalten hatten. Mit
dieser Maßregel war ein Zustand grenzenloser Verwirrung heraufbeschworen:
die Wahlmänner, die Gewählten, die Einberufenen protestirten, ein Theil der
Letzteren lehnte den Eintritt ab, Andere traten nur ein, um zu verhindern,
daß die Versammlung sich die Befugnisse einer wirklichen Landesvertretung
anmaße. Als nach Monaten die mürbe gewordene Mehrheit sich doch dazu
herbeilassen wollte, die Etats festzustellen und die Steuern zu verwilligen,
erklärten die Anderen ihren Austritt. Von den eiligst einberufenen Ersatz¬
männern leisteten die meisten, auch Friedrich Rückert als Rittergutsbesitzer zu
Neuses, dem Rufe keine Folge. Der kleine, nothdürftig beschlußfähige Nest
der Versammlung wurde im Mai 1842 in seiner Arbeit durch den Tod des¬
jenigen Mitglieds unterbrochen, welches es über sich gewonnen hatte, den Sitz
des recusirten Deputirten der Hauptstadt, David Sartorius, und seines
ebenfalls recusirten Stellvertreters einzunehmen.

Von jetzt ab tritt Moriz Briegleb in den Vordergrund der Be¬
wegung. Den biederen Sartorius, gegen den das Recusationsrecht vor¬
zugsweise ersonnen worden war, hatte ebenfalls ein rascher Tod mitten aus
rüstiger Mannesthätigkeit abgerufen; sein gegebener Nachfolger war Briegleb,
auf welchen denn auch im Juli 1842 fast alle Wahlstimmen fielen. Mochte
auch die Negierung schicklicher Weise den „neuen Mann" nicht ganz „recusiren",
so sollte er wenigstens für die bevorstehenden Etatsarbeiten un¬
schädlich gemacht werden. Darum wurden im September die Stände einst¬
weilen ohne ihn berufen. Wie scharf er auch protestirte, wie dringlich auch
der Landtag selbst die Einberufung Briegleb's verlangte, seine Verpflich¬
tung und Einführung erfolgte erst nach der Etatsgenehmi¬
gung.

Die Aussicht, zum Landschaftssecretär gewählt zu werden, gab ihm bald
Veranlassung zur Darlegung seiner Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der
Versammlung. „Um Deputirter zu bleiben, genügt mir die Gültigkeit
meiner Wahl; aber um ein Chargirter dieser Versammlung zu sein, muß
ich auch die Vollmachten der übrigen Herren in Richtigkeit wissen." Unter
dem Eindrucke seiner Rede faßte die sonderbare Versammlung den förmlichen
Beschluß, sich bis auf'Weiteres aller Thätigkeit zu enthalten; zu einem ehren¬
haften Austritt konnte sich der Nest der ungesetzlich Berufenen auch jetzt nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/411>, abgerufen am 24.08.2024.