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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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in Frankreich, hat sich vor und nach der Abstimmung mit unserm Revisions¬
werk so viel zu schaffen gemacht, daß es zunächst sich lohnt, ganz objectiv
einen kurzen Blick auf den Gang und Inhalt dieser Arbeit zu werfen.

Die Revision unsrer Bundesverfassung war nicht das Erzeugniß doc-
trinärer Vorurtheile oder irgend einer Partei, sondern dringender Nothwendig¬
keit. Ganz Europa hat sich in den vier und zwanzig Jahren seit Geltung
unsrer Bundesverfassung von Grund aus verwandelt. Unsre Nachbarn sind
ringsum gewaltig centralisirte Staaten geworden. In Deutschland und
Italien namentlich ist an die Stelle der zwerghaften Dynastien und konstitu¬
tionellen Schlagwörter der vormärzlichen Periode das kräftige Bewußtsein des
nationalen Gesammtstaats getreten. Dieses Bewußtsein hat alle unsre Nach¬
barn nach einander oder mehrere von ihnen gleichzeitig und gegeneinander in
unvergessene gewaltige Kriege gerissen, aus denen die Unbefangenen unter uns
immer nur die eine Lehre für uns reifen sahen, daß wir hinter der Ent¬
wickelung aller unserer Nachbarn in Bezug auf Centralisation der äußeren
Politik und der Staatsgewalten, der Wehrkraft und Organisation unsres
Bundesheeres weit zurückgeblieben sind. Kein minderer als unser Nationalraths-
präfident Welti, der competenteste schweizerische Fachmann in dieser Beziehung,
hat die Militairverfassung der Eidgenossenschaft "die schlechteste in
ganz Europa" genannt, welche "im Ernstfalle gar nicht zu gebrauchen" sei. Die
Hinterlader, die wir zugethan haben, thuns freilich nicht allein. Die Haupt¬
sache war, daß der Bund die volle Militairsouverainetät erhielt, statt der
Cantone: daß alle Wehrpflicht nur dem Vaterland, nicht der Scholle, dem
weißen Kreuz im rothen Feld, nicht dem Stier von Uri oder dem Mutzen von
Bern geleistet wurde. Einheitliche Bewaffnung, Uebung, Ausbildung der
Truppe, der Officiere, des Stabes von Bundeswegen war das nothwen¬
digste uns noch zu erwerbende Kennzeichen unsrer Volkseinheit, das die neue
Verfassung gewährleisten mußte, und sie that es*). Das war um so



") Indem folgende Bestimmungen
der frühere" Verfassung durch folgende Artikel der Revision ersetzt wurden:
[Beginn Spaltensatz] Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflichtig. Art. 19. Das Bundesheer, welches ans den
Contiugentcn der Cantone gebildet wird, be-
steht: '
aus dem Bundesauszug, wozu jeder Can-
ton auf 10U Seelen schweizerischer Bcvöl-
kerung drei Maun zu stellen hat;
t. aus der Reserve, deren Bestand die Hälfte
des Bundesauszugcs beträgt.
In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch
über die übrigen Streitkräfte (die Landwehr)
eines jeden Cantons verfügen. Die Mannschaftsscala, welche nach dem be-
zeichneten Maßstabe das Contingent für jeden
Canton festsetzt, ist alle zwanzig Jahre einer
Revision zu unterwerfen. Art. 20. Um in dem Bundesheere die er-
sorderliche Gleichmäßigkeit und Dienstfähigkcit
zu erzielen, werden folgende Grundsätze fcflge-
setzt: 1. Ein Bundesgesetz bestimmt die allge-
meine Organisation deS Bundesheeres. 2. Der
Bund übernimmt:[Spaltenumbruch] Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflich¬
tig. -- Wehrmünner, welche in Folge des eid¬
genössischen Militärdienstes ihr Leben verlieren
oder dauernden Schaden an ihrer Gesundheit
erleiden, baben für sich oder ihre Familien, im
Falle des Bedürfnisses, Anspruch auf Unter¬
Stützung des Bundes.
Art. 19. Das Bundesheer besteht aus
der gesammten, nach der eidgenössischen
Gesetzgebung dienstpflichtigen Maru-
schaft.
In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch
über die nicht zum Bundcsheere gehörende
Mannschaft und über die übrigen Streitmittel
der Cantone verfügen.
Die Cantone verfügen über die Wehrkraft
ihres Gebietes, so weit sie nicht durch verfas-
sungsmäßige oder gesetzliche Anordnungen des
Bundes beschränkt sind.
Art. 2V. Die Organisation des Bun-
deshceres ist Gegenstand der Bundesgesetz-
gcbung.
Soweit nicht militärische Gründe cntgcgcn-
stehen, sollen die taktischen Einheiten aus der
Mannschaft desselben Cantons gebildet werden. [Ende Spaltensatz]
Grenzboten II. 1872. SO

in Frankreich, hat sich vor und nach der Abstimmung mit unserm Revisions¬
werk so viel zu schaffen gemacht, daß es zunächst sich lohnt, ganz objectiv
einen kurzen Blick auf den Gang und Inhalt dieser Arbeit zu werfen.

Die Revision unsrer Bundesverfassung war nicht das Erzeugniß doc-
trinärer Vorurtheile oder irgend einer Partei, sondern dringender Nothwendig¬
keit. Ganz Europa hat sich in den vier und zwanzig Jahren seit Geltung
unsrer Bundesverfassung von Grund aus verwandelt. Unsre Nachbarn sind
ringsum gewaltig centralisirte Staaten geworden. In Deutschland und
Italien namentlich ist an die Stelle der zwerghaften Dynastien und konstitu¬
tionellen Schlagwörter der vormärzlichen Periode das kräftige Bewußtsein des
nationalen Gesammtstaats getreten. Dieses Bewußtsein hat alle unsre Nach¬
barn nach einander oder mehrere von ihnen gleichzeitig und gegeneinander in
unvergessene gewaltige Kriege gerissen, aus denen die Unbefangenen unter uns
immer nur die eine Lehre für uns reifen sahen, daß wir hinter der Ent¬
wickelung aller unserer Nachbarn in Bezug auf Centralisation der äußeren
Politik und der Staatsgewalten, der Wehrkraft und Organisation unsres
Bundesheeres weit zurückgeblieben sind. Kein minderer als unser Nationalraths-
präfident Welti, der competenteste schweizerische Fachmann in dieser Beziehung,
hat die Militairverfassung der Eidgenossenschaft „die schlechteste in
ganz Europa" genannt, welche „im Ernstfalle gar nicht zu gebrauchen" sei. Die
Hinterlader, die wir zugethan haben, thuns freilich nicht allein. Die Haupt¬
sache war, daß der Bund die volle Militairsouverainetät erhielt, statt der
Cantone: daß alle Wehrpflicht nur dem Vaterland, nicht der Scholle, dem
weißen Kreuz im rothen Feld, nicht dem Stier von Uri oder dem Mutzen von
Bern geleistet wurde. Einheitliche Bewaffnung, Uebung, Ausbildung der
Truppe, der Officiere, des Stabes von Bundeswegen war das nothwen¬
digste uns noch zu erwerbende Kennzeichen unsrer Volkseinheit, das die neue
Verfassung gewährleisten mußte, und sie that es*). Das war um so



") Indem folgende Bestimmungen
der frühere» Verfassung durch folgende Artikel der Revision ersetzt wurden:
[Beginn Spaltensatz] Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflichtig. Art. 19. Das Bundesheer, welches ans den
Contiugentcn der Cantone gebildet wird, be-
steht: '
aus dem Bundesauszug, wozu jeder Can-
ton auf 10U Seelen schweizerischer Bcvöl-
kerung drei Maun zu stellen hat;
t. aus der Reserve, deren Bestand die Hälfte
des Bundesauszugcs beträgt.
In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch
über die übrigen Streitkräfte (die Landwehr)
eines jeden Cantons verfügen. Die Mannschaftsscala, welche nach dem be-
zeichneten Maßstabe das Contingent für jeden
Canton festsetzt, ist alle zwanzig Jahre einer
Revision zu unterwerfen. Art. 20. Um in dem Bundesheere die er-
sorderliche Gleichmäßigkeit und Dienstfähigkcit
zu erzielen, werden folgende Grundsätze fcflge-
setzt: 1. Ein Bundesgesetz bestimmt die allge-
meine Organisation deS Bundesheeres. 2. Der
Bund übernimmt:[Spaltenumbruch] Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflich¬
tig. — Wehrmünner, welche in Folge des eid¬
genössischen Militärdienstes ihr Leben verlieren
oder dauernden Schaden an ihrer Gesundheit
erleiden, baben für sich oder ihre Familien, im
Falle des Bedürfnisses, Anspruch auf Unter¬
Stützung des Bundes.
Art. 19. Das Bundesheer besteht aus
der gesammten, nach der eidgenössischen
Gesetzgebung dienstpflichtigen Maru-
schaft.
In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch
über die nicht zum Bundcsheere gehörende
Mannschaft und über die übrigen Streitmittel
der Cantone verfügen.
Die Cantone verfügen über die Wehrkraft
ihres Gebietes, so weit sie nicht durch verfas-
sungsmäßige oder gesetzliche Anordnungen des
Bundes beschränkt sind.
Art. 2V. Die Organisation des Bun-
deshceres ist Gegenstand der Bundesgesetz-
gcbung.
Soweit nicht militärische Gründe cntgcgcn-
stehen, sollen die taktischen Einheiten aus der
Mannschaft desselben Cantons gebildet werden. [Ende Spaltensatz]
Grenzboten II. 1872. SO
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[0401] in Frankreich, hat sich vor und nach der Abstimmung mit unserm Revisions¬ werk so viel zu schaffen gemacht, daß es zunächst sich lohnt, ganz objectiv einen kurzen Blick auf den Gang und Inhalt dieser Arbeit zu werfen. Die Revision unsrer Bundesverfassung war nicht das Erzeugniß doc- trinärer Vorurtheile oder irgend einer Partei, sondern dringender Nothwendig¬ keit. Ganz Europa hat sich in den vier und zwanzig Jahren seit Geltung unsrer Bundesverfassung von Grund aus verwandelt. Unsre Nachbarn sind ringsum gewaltig centralisirte Staaten geworden. In Deutschland und Italien namentlich ist an die Stelle der zwerghaften Dynastien und konstitu¬ tionellen Schlagwörter der vormärzlichen Periode das kräftige Bewußtsein des nationalen Gesammtstaats getreten. Dieses Bewußtsein hat alle unsre Nach¬ barn nach einander oder mehrere von ihnen gleichzeitig und gegeneinander in unvergessene gewaltige Kriege gerissen, aus denen die Unbefangenen unter uns immer nur die eine Lehre für uns reifen sahen, daß wir hinter der Ent¬ wickelung aller unserer Nachbarn in Bezug auf Centralisation der äußeren Politik und der Staatsgewalten, der Wehrkraft und Organisation unsres Bundesheeres weit zurückgeblieben sind. Kein minderer als unser Nationalraths- präfident Welti, der competenteste schweizerische Fachmann in dieser Beziehung, hat die Militairverfassung der Eidgenossenschaft „die schlechteste in ganz Europa" genannt, welche „im Ernstfalle gar nicht zu gebrauchen" sei. Die Hinterlader, die wir zugethan haben, thuns freilich nicht allein. Die Haupt¬ sache war, daß der Bund die volle Militairsouverainetät erhielt, statt der Cantone: daß alle Wehrpflicht nur dem Vaterland, nicht der Scholle, dem weißen Kreuz im rothen Feld, nicht dem Stier von Uri oder dem Mutzen von Bern geleistet wurde. Einheitliche Bewaffnung, Uebung, Ausbildung der Truppe, der Officiere, des Stabes von Bundeswegen war das nothwen¬ digste uns noch zu erwerbende Kennzeichen unsrer Volkseinheit, das die neue Verfassung gewährleisten mußte, und sie that es*). Das war um so ") Indem folgende Bestimmungen der frühere» Verfassung durch folgende Artikel der Revision ersetzt wurden: Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflichtig. Art. 19. Das Bundesheer, welches ans den Contiugentcn der Cantone gebildet wird, be- steht: ' aus dem Bundesauszug, wozu jeder Can- ton auf 10U Seelen schweizerischer Bcvöl- kerung drei Maun zu stellen hat; t. aus der Reserve, deren Bestand die Hälfte des Bundesauszugcs beträgt. In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch über die übrigen Streitkräfte (die Landwehr) eines jeden Cantons verfügen. Die Mannschaftsscala, welche nach dem be- zeichneten Maßstabe das Contingent für jeden Canton festsetzt, ist alle zwanzig Jahre einer Revision zu unterwerfen. Art. 20. Um in dem Bundesheere die er- sorderliche Gleichmäßigkeit und Dienstfähigkcit zu erzielen, werden folgende Grundsätze fcflge- setzt: 1. Ein Bundesgesetz bestimmt die allge- meine Organisation deS Bundesheeres. 2. Der Bund übernimmt: Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflich¬ tig. — Wehrmünner, welche in Folge des eid¬ genössischen Militärdienstes ihr Leben verlieren oder dauernden Schaden an ihrer Gesundheit erleiden, baben für sich oder ihre Familien, im Falle des Bedürfnisses, Anspruch auf Unter¬ Stützung des Bundes. Art. 19. Das Bundesheer besteht aus der gesammten, nach der eidgenössischen Gesetzgebung dienstpflichtigen Maru- schaft. In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch über die nicht zum Bundcsheere gehörende Mannschaft und über die übrigen Streitmittel der Cantone verfügen. Die Cantone verfügen über die Wehrkraft ihres Gebietes, so weit sie nicht durch verfas- sungsmäßige oder gesetzliche Anordnungen des Bundes beschränkt sind. Art. 2V. Die Organisation des Bun- deshceres ist Gegenstand der Bundesgesetz- gcbung. Soweit nicht militärische Gründe cntgcgcn- stehen, sollen die taktischen Einheiten aus der Mannschaft desselben Cantons gebildet werden. Grenzboten II. 1872. SO

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/401>, abgerufen am 22.12.2024.