Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sten Mißbilligung begegnen, da diese Mißbilligung das beste Mittel zu ihrer
Niederhaltung ist. Mißbilligung unterdrückt unglücklicherweise die Schwind¬
sucht nicht, obwohl sie gewisse Leidenschaften unterdrücken kann und soll, die
zur Schwindsucht führen, und deshalb würde es eine Verschwendung gesunden
Hasses sein, wenn man einen Kranken verabscheuen wollte. Aber Mißbilligung
kann eine mächtige Wirkung zur Abschreckung haben, wo der Trieb zu Mord
oder andern Verbrechen vorhanden und in der Entwickelung begriffen ist, sie
hat diese Wirkung geübt, sie sollte also in Bezug auf solche Triebe fortwäh¬
rend so viel als möglich angeregt werden. Alles das ist unabhängig von den
Verlegenheiten, welche freier Wille und Nothwendigkeit den Philosophen be¬
reiten, und welche den Verfasser von Erewhon verblüfft zu haben scheinen.

Die Erewhoniten haben aber noch eine Menge anderer wunderlicher An¬
schauungen und Sitten. Sie haben z. B. schon vor langer Zeit alle Ma¬
schinen, welche die letzten 271 Jahre erfunden, abgeschafft, weil einer ihrer
Weltweisen die Entdeckung gemacht hat, daß man zuletzt Maschinen erfinden
werde, welche lebende Wesen mit Bewußtsein und solcher Riesenkraft wären,
daß der Mensch vor ihnen in völlige Sclaverei gerathen würde. Jene Be¬
schränkung, welche unter anderm hauptsächlich durch eine Wäschrolle empfohlen
wurde, die den Waschfrauen von Erewhon unentbehrlich schien, schließt die
Taschenuhren nicht mit ein, weshalb unser Reisender wegen Besitzes einer
solchen mit der Polizei zu thun bekam.

Sodann giebt es in Erewhon "Schulen der Unvernunft", die sich vor¬
züglich mit dem Studium von Hypothesen und Conjecturen beschäftigen und
eifrig die Theorie von dem, was hätte sein und geschehen können, tractiren,
was ein viel breiteres und erhabeneres Feld für die Untersuchung darbietet
als die Lehre von dem, was wirklich geschehen ist.

Die Hauptgottheit der Erewhoniten ist Mgrun, Personifikation der
Nespeetabilität, "die man gerade da, wo man sie am frömmsten verehrt, am
ärgsten verleugnet", was auch bei uns vorkommen soll. Der Glaube an ein
jenseitiges Leben gilt für unsittlich, weil er die Menschen verführe, die Heilig¬
keit des diesseitigen aus den Augen zu setzen. Dagegen nehmen die Erewho¬
niten ein Leben vor dem irdischen an. Es giebt nach ihrer Meinung, die
beiläufig schon von Plato und den Gnostikern getheilt wurde, ein Geschlecht
Unsterblicher jenseit der irdischen Dinge. Nun haben aber manche von
diesen den thörichten Drang, auf die Welt zu kommen, wo sie sterblich werden;
denn geboren werden, ist ein Hauptverbrechen, auf welches der Tod steht,
wenn er auch häufig erst nach einem Aufschub von siebzig bis achtzig Jahren
vollstreckt wird.

Hat Jemand droben den festen Entschluß gefaßt, dieses Verbrechen zu
begehen, so hat er sich beim Magistrat zu melden, der ihn erst zur Vernunft


sten Mißbilligung begegnen, da diese Mißbilligung das beste Mittel zu ihrer
Niederhaltung ist. Mißbilligung unterdrückt unglücklicherweise die Schwind¬
sucht nicht, obwohl sie gewisse Leidenschaften unterdrücken kann und soll, die
zur Schwindsucht führen, und deshalb würde es eine Verschwendung gesunden
Hasses sein, wenn man einen Kranken verabscheuen wollte. Aber Mißbilligung
kann eine mächtige Wirkung zur Abschreckung haben, wo der Trieb zu Mord
oder andern Verbrechen vorhanden und in der Entwickelung begriffen ist, sie
hat diese Wirkung geübt, sie sollte also in Bezug auf solche Triebe fortwäh¬
rend so viel als möglich angeregt werden. Alles das ist unabhängig von den
Verlegenheiten, welche freier Wille und Nothwendigkeit den Philosophen be¬
reiten, und welche den Verfasser von Erewhon verblüfft zu haben scheinen.

Die Erewhoniten haben aber noch eine Menge anderer wunderlicher An¬
schauungen und Sitten. Sie haben z. B. schon vor langer Zeit alle Ma¬
schinen, welche die letzten 271 Jahre erfunden, abgeschafft, weil einer ihrer
Weltweisen die Entdeckung gemacht hat, daß man zuletzt Maschinen erfinden
werde, welche lebende Wesen mit Bewußtsein und solcher Riesenkraft wären,
daß der Mensch vor ihnen in völlige Sclaverei gerathen würde. Jene Be¬
schränkung, welche unter anderm hauptsächlich durch eine Wäschrolle empfohlen
wurde, die den Waschfrauen von Erewhon unentbehrlich schien, schließt die
Taschenuhren nicht mit ein, weshalb unser Reisender wegen Besitzes einer
solchen mit der Polizei zu thun bekam.

Sodann giebt es in Erewhon „Schulen der Unvernunft", die sich vor¬
züglich mit dem Studium von Hypothesen und Conjecturen beschäftigen und
eifrig die Theorie von dem, was hätte sein und geschehen können, tractiren,
was ein viel breiteres und erhabeneres Feld für die Untersuchung darbietet
als die Lehre von dem, was wirklich geschehen ist.

Die Hauptgottheit der Erewhoniten ist Mgrun, Personifikation der
Nespeetabilität, „die man gerade da, wo man sie am frömmsten verehrt, am
ärgsten verleugnet", was auch bei uns vorkommen soll. Der Glaube an ein
jenseitiges Leben gilt für unsittlich, weil er die Menschen verführe, die Heilig¬
keit des diesseitigen aus den Augen zu setzen. Dagegen nehmen die Erewho¬
niten ein Leben vor dem irdischen an. Es giebt nach ihrer Meinung, die
beiläufig schon von Plato und den Gnostikern getheilt wurde, ein Geschlecht
Unsterblicher jenseit der irdischen Dinge. Nun haben aber manche von
diesen den thörichten Drang, auf die Welt zu kommen, wo sie sterblich werden;
denn geboren werden, ist ein Hauptverbrechen, auf welches der Tod steht,
wenn er auch häufig erst nach einem Aufschub von siebzig bis achtzig Jahren
vollstreckt wird.

Hat Jemand droben den festen Entschluß gefaßt, dieses Verbrechen zu
begehen, so hat er sich beim Magistrat zu melden, der ihn erst zur Vernunft


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0386" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127782"/>
          <p xml:id="ID_1224" prev="#ID_1223"> sten Mißbilligung begegnen, da diese Mißbilligung das beste Mittel zu ihrer<lb/>
Niederhaltung ist. Mißbilligung unterdrückt unglücklicherweise die Schwind¬<lb/>
sucht nicht, obwohl sie gewisse Leidenschaften unterdrücken kann und soll, die<lb/>
zur Schwindsucht führen, und deshalb würde es eine Verschwendung gesunden<lb/>
Hasses sein, wenn man einen Kranken verabscheuen wollte. Aber Mißbilligung<lb/>
kann eine mächtige Wirkung zur Abschreckung haben, wo der Trieb zu Mord<lb/>
oder andern Verbrechen vorhanden und in der Entwickelung begriffen ist, sie<lb/>
hat diese Wirkung geübt, sie sollte also in Bezug auf solche Triebe fortwäh¬<lb/>
rend so viel als möglich angeregt werden. Alles das ist unabhängig von den<lb/>
Verlegenheiten, welche freier Wille und Nothwendigkeit den Philosophen be¬<lb/>
reiten, und welche den Verfasser von Erewhon verblüfft zu haben scheinen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1225"> Die Erewhoniten haben aber noch eine Menge anderer wunderlicher An¬<lb/>
schauungen und Sitten. Sie haben z. B. schon vor langer Zeit alle Ma¬<lb/>
schinen, welche die letzten 271 Jahre erfunden, abgeschafft, weil einer ihrer<lb/>
Weltweisen die Entdeckung gemacht hat, daß man zuletzt Maschinen erfinden<lb/>
werde, welche lebende Wesen mit Bewußtsein und solcher Riesenkraft wären,<lb/>
daß der Mensch vor ihnen in völlige Sclaverei gerathen würde. Jene Be¬<lb/>
schränkung, welche unter anderm hauptsächlich durch eine Wäschrolle empfohlen<lb/>
wurde, die den Waschfrauen von Erewhon unentbehrlich schien, schließt die<lb/>
Taschenuhren nicht mit ein, weshalb unser Reisender wegen Besitzes einer<lb/>
solchen mit der Polizei zu thun bekam.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1226"> Sodann giebt es in Erewhon &#x201E;Schulen der Unvernunft", die sich vor¬<lb/>
züglich mit dem Studium von Hypothesen und Conjecturen beschäftigen und<lb/>
eifrig die Theorie von dem, was hätte sein und geschehen können, tractiren,<lb/>
was ein viel breiteres und erhabeneres Feld für die Untersuchung darbietet<lb/>
als die Lehre von dem, was wirklich geschehen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1227"> Die Hauptgottheit der Erewhoniten ist Mgrun, Personifikation der<lb/>
Nespeetabilität, &#x201E;die man gerade da, wo man sie am frömmsten verehrt, am<lb/>
ärgsten verleugnet", was auch bei uns vorkommen soll. Der Glaube an ein<lb/>
jenseitiges Leben gilt für unsittlich, weil er die Menschen verführe, die Heilig¬<lb/>
keit des diesseitigen aus den Augen zu setzen. Dagegen nehmen die Erewho¬<lb/>
niten ein Leben vor dem irdischen an. Es giebt nach ihrer Meinung, die<lb/>
beiläufig schon von Plato und den Gnostikern getheilt wurde, ein Geschlecht<lb/>
Unsterblicher jenseit der irdischen Dinge. Nun haben aber manche von<lb/>
diesen den thörichten Drang, auf die Welt zu kommen, wo sie sterblich werden;<lb/>
denn geboren werden, ist ein Hauptverbrechen, auf welches der Tod steht,<lb/>
wenn er auch häufig erst nach einem Aufschub von siebzig bis achtzig Jahren<lb/>
vollstreckt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1228" next="#ID_1229"> Hat Jemand droben den festen Entschluß gefaßt, dieses Verbrechen zu<lb/>
begehen, so hat er sich beim Magistrat zu melden, der ihn erst zur Vernunft</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0386] sten Mißbilligung begegnen, da diese Mißbilligung das beste Mittel zu ihrer Niederhaltung ist. Mißbilligung unterdrückt unglücklicherweise die Schwind¬ sucht nicht, obwohl sie gewisse Leidenschaften unterdrücken kann und soll, die zur Schwindsucht führen, und deshalb würde es eine Verschwendung gesunden Hasses sein, wenn man einen Kranken verabscheuen wollte. Aber Mißbilligung kann eine mächtige Wirkung zur Abschreckung haben, wo der Trieb zu Mord oder andern Verbrechen vorhanden und in der Entwickelung begriffen ist, sie hat diese Wirkung geübt, sie sollte also in Bezug auf solche Triebe fortwäh¬ rend so viel als möglich angeregt werden. Alles das ist unabhängig von den Verlegenheiten, welche freier Wille und Nothwendigkeit den Philosophen be¬ reiten, und welche den Verfasser von Erewhon verblüfft zu haben scheinen. Die Erewhoniten haben aber noch eine Menge anderer wunderlicher An¬ schauungen und Sitten. Sie haben z. B. schon vor langer Zeit alle Ma¬ schinen, welche die letzten 271 Jahre erfunden, abgeschafft, weil einer ihrer Weltweisen die Entdeckung gemacht hat, daß man zuletzt Maschinen erfinden werde, welche lebende Wesen mit Bewußtsein und solcher Riesenkraft wären, daß der Mensch vor ihnen in völlige Sclaverei gerathen würde. Jene Be¬ schränkung, welche unter anderm hauptsächlich durch eine Wäschrolle empfohlen wurde, die den Waschfrauen von Erewhon unentbehrlich schien, schließt die Taschenuhren nicht mit ein, weshalb unser Reisender wegen Besitzes einer solchen mit der Polizei zu thun bekam. Sodann giebt es in Erewhon „Schulen der Unvernunft", die sich vor¬ züglich mit dem Studium von Hypothesen und Conjecturen beschäftigen und eifrig die Theorie von dem, was hätte sein und geschehen können, tractiren, was ein viel breiteres und erhabeneres Feld für die Untersuchung darbietet als die Lehre von dem, was wirklich geschehen ist. Die Hauptgottheit der Erewhoniten ist Mgrun, Personifikation der Nespeetabilität, „die man gerade da, wo man sie am frömmsten verehrt, am ärgsten verleugnet", was auch bei uns vorkommen soll. Der Glaube an ein jenseitiges Leben gilt für unsittlich, weil er die Menschen verführe, die Heilig¬ keit des diesseitigen aus den Augen zu setzen. Dagegen nehmen die Erewho¬ niten ein Leben vor dem irdischen an. Es giebt nach ihrer Meinung, die beiläufig schon von Plato und den Gnostikern getheilt wurde, ein Geschlecht Unsterblicher jenseit der irdischen Dinge. Nun haben aber manche von diesen den thörichten Drang, auf die Welt zu kommen, wo sie sterblich werden; denn geboren werden, ist ein Hauptverbrechen, auf welches der Tod steht, wenn er auch häufig erst nach einem Aufschub von siebzig bis achtzig Jahren vollstreckt wird. Hat Jemand droben den festen Entschluß gefaßt, dieses Verbrechen zu begehen, so hat er sich beim Magistrat zu melden, der ihn erst zur Vernunft

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/386
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/386>, abgerufen am 03.07.2024.