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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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oder die untern Extremitäten betrafen. Die Krankheiten des Kopfes, gleich¬
viel ob innerlich oder äußerlich, wurden mit Laudanum, die des Mittelkörpcrs
mit Ricinusöl und die der Beine mit einer starken Lösung von Schwefelsäure
und Wasser behandelt/ Energischere Reformer wünschen eine Weiterentwickel¬
ung dieser Grundsätze und betrachten jene Heilmittel als ungenügend.

Die Satire auf einige englische Einrichtungen, die hierin liegt, ist ver¬
ständlich genug. Auch wir können uns Manches davon annehmen. Betrach¬
ten wir sie als bloßes Phantasiespiel, als ein "Auf den Kopf Stellen der
Thatsachen", so ist sie recht amüsant. Wir hegen indeß den Verdacht, daß
der Verfasser eine Verspottung des Cmninalrechts beabsichtigte. Zwar hütet
er sich, das unmittelbar auszusprechen, und behält die Moral für sich. Er
wird vielleicht lachen über die Kritiker, welche ihm Absichten unterlegen, an
die er nicht gedacht hat. Wir wagen aber doch anzunehmen, daß seine Moral
darin besteht, Verbrechen müßten wie Krankheiten behandelt werden, und daß
er uns sagen will: die Erewhoniten, über ^die ihr lacht, verfahren unlogisch,
ihr aber thut das gleichfalls; sie begehen eine Dummheit, wenn sie Fieber
als Verbrechen ansehen, ihr verfährt nicht weniger einfältig, wenn ihr Dieb¬
stahl nicht als Krankheitssymptom auffaßt.

Nun aber ist, selbst zugestanden, daß diese Philosophie einwandsfrei ist,
und daß die menschlichen Handlungen unabänderlichen Gesetzen der Causalität
unterworfen sind, der Schluß des Verfassers noch nicht ganz gerechtfertigt.
Er deutet an: wir hassen Jemand, der zum Morden geneigt ist, warum den
nicht hassen, der die Schwindsucht hat? Oder vielmehr, warum bemitleiden
wir nicht beide, da beide die Opfer äußerer Umstände sind? Der Grund liegt
auf der Hand: Der Mordsüchtige kann uns schaden, der schwindsüchtige lei¬
det allein von seinem Uebel. Betrachten wir den einen als das simple Spiel¬
zeug eines Buckels an seinem Hinterkopfe und den Andern als das Opfer
einer zufälligen Schwäche seiner Lungen, so wird der Mörder doch der ver¬
haßtere bleiben, weil er ver gefährlichere ist. Aber stellen wir die beiden
Krankheiten in dieser Beziehung auf eine Stufe, nehmen wir z. B. an, daß
die Schwindsucht eine Krankheit so ansteckend oder noch ansteckender wie die
Pest oder Cholera wäre, so würden wir trotzdem mehr Mitleid mit dem
Opfer, als Grauen vor und Haß gegen dasselbe empfinden. Wenn es sie sich
in Folge einer krankhaften Neigung freiwillig zugezogen hätte, so würden wir
anfangen, ihn zu hassen, und doch würde die krankhafte Neigung ganz ebenso
wie die Krankheit selbst in den Kausalzusammenhang fallen.

Ohne uns in das Labyrinth zu verirren, an dessen Saum wir hiermit
angekommen sind, können wir bemerken, daß es für die Schwierigkeit eine ein¬
fache Antwort giebt. Es ist wesentlich, daß gewisse Eigenschaften der äußer-


Gmi"toten II. 1872. 48

oder die untern Extremitäten betrafen. Die Krankheiten des Kopfes, gleich¬
viel ob innerlich oder äußerlich, wurden mit Laudanum, die des Mittelkörpcrs
mit Ricinusöl und die der Beine mit einer starken Lösung von Schwefelsäure
und Wasser behandelt/ Energischere Reformer wünschen eine Weiterentwickel¬
ung dieser Grundsätze und betrachten jene Heilmittel als ungenügend.

Die Satire auf einige englische Einrichtungen, die hierin liegt, ist ver¬
ständlich genug. Auch wir können uns Manches davon annehmen. Betrach¬
ten wir sie als bloßes Phantasiespiel, als ein „Auf den Kopf Stellen der
Thatsachen", so ist sie recht amüsant. Wir hegen indeß den Verdacht, daß
der Verfasser eine Verspottung des Cmninalrechts beabsichtigte. Zwar hütet
er sich, das unmittelbar auszusprechen, und behält die Moral für sich. Er
wird vielleicht lachen über die Kritiker, welche ihm Absichten unterlegen, an
die er nicht gedacht hat. Wir wagen aber doch anzunehmen, daß seine Moral
darin besteht, Verbrechen müßten wie Krankheiten behandelt werden, und daß
er uns sagen will: die Erewhoniten, über ^die ihr lacht, verfahren unlogisch,
ihr aber thut das gleichfalls; sie begehen eine Dummheit, wenn sie Fieber
als Verbrechen ansehen, ihr verfährt nicht weniger einfältig, wenn ihr Dieb¬
stahl nicht als Krankheitssymptom auffaßt.

Nun aber ist, selbst zugestanden, daß diese Philosophie einwandsfrei ist,
und daß die menschlichen Handlungen unabänderlichen Gesetzen der Causalität
unterworfen sind, der Schluß des Verfassers noch nicht ganz gerechtfertigt.
Er deutet an: wir hassen Jemand, der zum Morden geneigt ist, warum den
nicht hassen, der die Schwindsucht hat? Oder vielmehr, warum bemitleiden
wir nicht beide, da beide die Opfer äußerer Umstände sind? Der Grund liegt
auf der Hand: Der Mordsüchtige kann uns schaden, der schwindsüchtige lei¬
det allein von seinem Uebel. Betrachten wir den einen als das simple Spiel¬
zeug eines Buckels an seinem Hinterkopfe und den Andern als das Opfer
einer zufälligen Schwäche seiner Lungen, so wird der Mörder doch der ver¬
haßtere bleiben, weil er ver gefährlichere ist. Aber stellen wir die beiden
Krankheiten in dieser Beziehung auf eine Stufe, nehmen wir z. B. an, daß
die Schwindsucht eine Krankheit so ansteckend oder noch ansteckender wie die
Pest oder Cholera wäre, so würden wir trotzdem mehr Mitleid mit dem
Opfer, als Grauen vor und Haß gegen dasselbe empfinden. Wenn es sie sich
in Folge einer krankhaften Neigung freiwillig zugezogen hätte, so würden wir
anfangen, ihn zu hassen, und doch würde die krankhafte Neigung ganz ebenso
wie die Krankheit selbst in den Kausalzusammenhang fallen.

Ohne uns in das Labyrinth zu verirren, an dessen Saum wir hiermit
angekommen sind, können wir bemerken, daß es für die Schwierigkeit eine ein¬
fache Antwort giebt. Es ist wesentlich, daß gewisse Eigenschaften der äußer-


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[0385] oder die untern Extremitäten betrafen. Die Krankheiten des Kopfes, gleich¬ viel ob innerlich oder äußerlich, wurden mit Laudanum, die des Mittelkörpcrs mit Ricinusöl und die der Beine mit einer starken Lösung von Schwefelsäure und Wasser behandelt/ Energischere Reformer wünschen eine Weiterentwickel¬ ung dieser Grundsätze und betrachten jene Heilmittel als ungenügend. Die Satire auf einige englische Einrichtungen, die hierin liegt, ist ver¬ ständlich genug. Auch wir können uns Manches davon annehmen. Betrach¬ ten wir sie als bloßes Phantasiespiel, als ein „Auf den Kopf Stellen der Thatsachen", so ist sie recht amüsant. Wir hegen indeß den Verdacht, daß der Verfasser eine Verspottung des Cmninalrechts beabsichtigte. Zwar hütet er sich, das unmittelbar auszusprechen, und behält die Moral für sich. Er wird vielleicht lachen über die Kritiker, welche ihm Absichten unterlegen, an die er nicht gedacht hat. Wir wagen aber doch anzunehmen, daß seine Moral darin besteht, Verbrechen müßten wie Krankheiten behandelt werden, und daß er uns sagen will: die Erewhoniten, über ^die ihr lacht, verfahren unlogisch, ihr aber thut das gleichfalls; sie begehen eine Dummheit, wenn sie Fieber als Verbrechen ansehen, ihr verfährt nicht weniger einfältig, wenn ihr Dieb¬ stahl nicht als Krankheitssymptom auffaßt. Nun aber ist, selbst zugestanden, daß diese Philosophie einwandsfrei ist, und daß die menschlichen Handlungen unabänderlichen Gesetzen der Causalität unterworfen sind, der Schluß des Verfassers noch nicht ganz gerechtfertigt. Er deutet an: wir hassen Jemand, der zum Morden geneigt ist, warum den nicht hassen, der die Schwindsucht hat? Oder vielmehr, warum bemitleiden wir nicht beide, da beide die Opfer äußerer Umstände sind? Der Grund liegt auf der Hand: Der Mordsüchtige kann uns schaden, der schwindsüchtige lei¬ det allein von seinem Uebel. Betrachten wir den einen als das simple Spiel¬ zeug eines Buckels an seinem Hinterkopfe und den Andern als das Opfer einer zufälligen Schwäche seiner Lungen, so wird der Mörder doch der ver¬ haßtere bleiben, weil er ver gefährlichere ist. Aber stellen wir die beiden Krankheiten in dieser Beziehung auf eine Stufe, nehmen wir z. B. an, daß die Schwindsucht eine Krankheit so ansteckend oder noch ansteckender wie die Pest oder Cholera wäre, so würden wir trotzdem mehr Mitleid mit dem Opfer, als Grauen vor und Haß gegen dasselbe empfinden. Wenn es sie sich in Folge einer krankhaften Neigung freiwillig zugezogen hätte, so würden wir anfangen, ihn zu hassen, und doch würde die krankhafte Neigung ganz ebenso wie die Krankheit selbst in den Kausalzusammenhang fallen. Ohne uns in das Labyrinth zu verirren, an dessen Saum wir hiermit angekommen sind, können wir bemerken, daß es für die Schwierigkeit eine ein¬ fache Antwort giebt. Es ist wesentlich, daß gewisse Eigenschaften der äußer- Gmi»toten II. 1872. 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/385>, abgerufen am 22.07.2024.