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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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Spiel des Zufalls, aber nicht einzig in seiner Art; vielmehr wird jeder, der
einen Blick in die Werkstätte der Legendenbildung der katholischen Kirche wirft,
diesen Fall durch ähnliche Beispiele belegt finden: Der Drachentödter Sigurd
ist zum Se. Georg geworden; der germanische Donnergott Thorr hat viele
seiner volkstümlichen Züge an den heiligen Olaf abgeben müssen und noch
eine andere Gestalt der indischen Sage, die tugendhafte von ihrem Gatten
Rama verstoßenen Lira im indischen Epos Ramajana ist das Vorbild zu
unserer schönen Legende von der heiligen Genoveva geworden.




Wir schrieben unsern letzten Bericht unter dem Eindrucke der befriedigten
Stimmung, welche das Einlenken der württembergischen Staatsregierung in
der Frage von der rechtlichen Natur der sogenannten Neservatrechte in weiteren
Kreisen hervorgerufen hatte. Indessen sollte der Freude über diesen im
Wesentlichen nur formellen Erfolg der Dämpfer bald nachfolgen. An die
Debatte über jene Sonderrechte reihte sich nämlich in unserer inzwischen ver¬
tagten Ständekammer wenige Tage später die Berathung über den Etat des
Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, und damit der schon lange
vorausgesehene Kampf um die württembergischen Gesandtschaften. Das Mi¬
nisterium, welches wohl selbst die UnHaltbarkeit dieser Position für die Zu¬
kunft einsieht, hatte sich offenbar dem Hof gegenüber engagirt, die Gesandt¬
schaften um jeden Preis durchzusetzen. In einer Ständekammer, welche zur
Hälfte aus Beamten besteht, und in welcher überdies die Stuttgarter Local-
interessen so stark vertreten sind, wie in der gegenwärtigen, fehlte es natürlich
an Einwirkungsmitteln aller Art nicht. Es bedürfte hierzu keiner amtlichen
Erlasse. Aber der Druck, welcher auf der Abgeordnetenkammer lastete, machte
sich auch in der Debatte fühlbar; selbst die nationale Partei ließ in dieser so
überaus principiellen Frage -- welche in Stuttgart nicht, wie bei dem Frey-
tag'schen Antrag in München, durch ultramontane Intriguen aus ihrer rich¬
tigen Stellung gerückt war -- diejenige Energie vermissen, welche man draußen
im Lande von ihr erwartete. So trat die eigenthümliche Erscheinung zu
Tage, daß nicht ein Mitglied dieser Partei, sondern Herr von Varnbüler es
war, welcher die schneidendste Kritik an dem kleinstaatlichen Gesandtschafts¬
wesen ausübte und -- die erste inländische Autorität in dieser Frage -- die
Schädlichkeit der ferneren Beibehaltung einer württembergischen 'Diplomatie
offen darlegte, indem er zugleich dem Ministerium den Rath gab, den einzig
wirksamen Schutz der schwäbischen Interessen im Ausland fernerhin bei dem


Spiel des Zufalls, aber nicht einzig in seiner Art; vielmehr wird jeder, der
einen Blick in die Werkstätte der Legendenbildung der katholischen Kirche wirft,
diesen Fall durch ähnliche Beispiele belegt finden: Der Drachentödter Sigurd
ist zum Se. Georg geworden; der germanische Donnergott Thorr hat viele
seiner volkstümlichen Züge an den heiligen Olaf abgeben müssen und noch
eine andere Gestalt der indischen Sage, die tugendhafte von ihrem Gatten
Rama verstoßenen Lira im indischen Epos Ramajana ist das Vorbild zu
unserer schönen Legende von der heiligen Genoveva geworden.




Wir schrieben unsern letzten Bericht unter dem Eindrucke der befriedigten
Stimmung, welche das Einlenken der württembergischen Staatsregierung in
der Frage von der rechtlichen Natur der sogenannten Neservatrechte in weiteren
Kreisen hervorgerufen hatte. Indessen sollte der Freude über diesen im
Wesentlichen nur formellen Erfolg der Dämpfer bald nachfolgen. An die
Debatte über jene Sonderrechte reihte sich nämlich in unserer inzwischen ver¬
tagten Ständekammer wenige Tage später die Berathung über den Etat des
Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, und damit der schon lange
vorausgesehene Kampf um die württembergischen Gesandtschaften. Das Mi¬
nisterium, welches wohl selbst die UnHaltbarkeit dieser Position für die Zu¬
kunft einsieht, hatte sich offenbar dem Hof gegenüber engagirt, die Gesandt¬
schaften um jeden Preis durchzusetzen. In einer Ständekammer, welche zur
Hälfte aus Beamten besteht, und in welcher überdies die Stuttgarter Local-
interessen so stark vertreten sind, wie in der gegenwärtigen, fehlte es natürlich
an Einwirkungsmitteln aller Art nicht. Es bedürfte hierzu keiner amtlichen
Erlasse. Aber der Druck, welcher auf der Abgeordnetenkammer lastete, machte
sich auch in der Debatte fühlbar; selbst die nationale Partei ließ in dieser so
überaus principiellen Frage — welche in Stuttgart nicht, wie bei dem Frey-
tag'schen Antrag in München, durch ultramontane Intriguen aus ihrer rich¬
tigen Stellung gerückt war — diejenige Energie vermissen, welche man draußen
im Lande von ihr erwartete. So trat die eigenthümliche Erscheinung zu
Tage, daß nicht ein Mitglied dieser Partei, sondern Herr von Varnbüler es
war, welcher die schneidendste Kritik an dem kleinstaatlichen Gesandtschafts¬
wesen ausübte und -- die erste inländische Autorität in dieser Frage — die
Schädlichkeit der ferneren Beibehaltung einer württembergischen 'Diplomatie
offen darlegte, indem er zugleich dem Ministerium den Rath gab, den einzig
wirksamen Schutz der schwäbischen Interessen im Ausland fernerhin bei dem


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[0318] Spiel des Zufalls, aber nicht einzig in seiner Art; vielmehr wird jeder, der einen Blick in die Werkstätte der Legendenbildung der katholischen Kirche wirft, diesen Fall durch ähnliche Beispiele belegt finden: Der Drachentödter Sigurd ist zum Se. Georg geworden; der germanische Donnergott Thorr hat viele seiner volkstümlichen Züge an den heiligen Olaf abgeben müssen und noch eine andere Gestalt der indischen Sage, die tugendhafte von ihrem Gatten Rama verstoßenen Lira im indischen Epos Ramajana ist das Vorbild zu unserer schönen Legende von der heiligen Genoveva geworden. Wir schrieben unsern letzten Bericht unter dem Eindrucke der befriedigten Stimmung, welche das Einlenken der württembergischen Staatsregierung in der Frage von der rechtlichen Natur der sogenannten Neservatrechte in weiteren Kreisen hervorgerufen hatte. Indessen sollte der Freude über diesen im Wesentlichen nur formellen Erfolg der Dämpfer bald nachfolgen. An die Debatte über jene Sonderrechte reihte sich nämlich in unserer inzwischen ver¬ tagten Ständekammer wenige Tage später die Berathung über den Etat des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten, und damit der schon lange vorausgesehene Kampf um die württembergischen Gesandtschaften. Das Mi¬ nisterium, welches wohl selbst die UnHaltbarkeit dieser Position für die Zu¬ kunft einsieht, hatte sich offenbar dem Hof gegenüber engagirt, die Gesandt¬ schaften um jeden Preis durchzusetzen. In einer Ständekammer, welche zur Hälfte aus Beamten besteht, und in welcher überdies die Stuttgarter Local- interessen so stark vertreten sind, wie in der gegenwärtigen, fehlte es natürlich an Einwirkungsmitteln aller Art nicht. Es bedürfte hierzu keiner amtlichen Erlasse. Aber der Druck, welcher auf der Abgeordnetenkammer lastete, machte sich auch in der Debatte fühlbar; selbst die nationale Partei ließ in dieser so überaus principiellen Frage — welche in Stuttgart nicht, wie bei dem Frey- tag'schen Antrag in München, durch ultramontane Intriguen aus ihrer rich¬ tigen Stellung gerückt war — diejenige Energie vermissen, welche man draußen im Lande von ihr erwartete. So trat die eigenthümliche Erscheinung zu Tage, daß nicht ein Mitglied dieser Partei, sondern Herr von Varnbüler es war, welcher die schneidendste Kritik an dem kleinstaatlichen Gesandtschafts¬ wesen ausübte und -- die erste inländische Autorität in dieser Frage — die Schädlichkeit der ferneren Beibehaltung einer württembergischen 'Diplomatie offen darlegte, indem er zugleich dem Ministerium den Rath gab, den einzig wirksamen Schutz der schwäbischen Interessen im Ausland fernerhin bei dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/318>, abgerufen am 22.12.2024.