Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mannichfaltigen schwierigen Fragen, die sich ihm aufdringen, eine befriedigende
Antwort zu geben, hatte sich eine Wissenschaft gebildet, Casuistik genannt,
welche dem angehenden Geistlichen die Befähigung geben sollte, in jedem ein¬
zelnen Falle, der ihm vorgetragen wurde, ein treffendes Urtheil zu fällen. Je
weniger aber diese Casuistik sich auf feste Grundsätze einer entwickelten christ¬
lichen Sittenlehre stützte, je mehr im Gegentheil diese sich in die Casuistik
auflöste, desto mehr mußte die letztere, unumstößlicher sittlicher Principien be¬
raubt, sich in eine Summe von Klugheitsregeln verwandeln, die oft genug
ein ernstes sittlich gereiftes Bewußtsein beleidigt haben. Es ist bekannt, wie
die Jesuiten als Beichtväter durch die laxe Behandlung sittlicher Fragen sich
allgemein einen sehr ungünstigen Ruf erworben haben.

Also in Dogmatik und Casuistik ging und geht die Theologie der Je¬
suiten auf. Alle die Wissenschaften, welche den Geist der Kritik wecken, das
Studium der heiligen Schrift, die eingehende Beschäftigung mit der Geschichte
der Kirche, wurden vernachlässigt. Der Geist positiver Kritik, der das Ent¬
stehen und Bestehen des Protestantismus bedingt hat und immer bedingen
wird, sollte nicht heraufbeschworen werden. Die Aneignung des überlieferten
Lehrshstems -- das war die Aufgabe der mittelalterlichen Scholastik, das ist
die Aufgabe der jesuitischen Theologie geblieben. Aber wie verträgt sich mit
dieser beschränkenden Behandlung, welche die Jesuiten der Theologie zukom¬
men ließen, die Pflege der Philosophie auf jesuitischen Universitäten?
Eine jesuitische Universität, darin mittelalterlichen Vorbildern folgend,^) besteht
aus zwei Facultäten, der Facultät der Theologen und der Artisten. Diese
letztere entspricht unsrer gegenwärtigen philosophischen, die ja ebenso bunt aus
heterogenen Elementen zusammengefügt ist, wie jene. Aber doch besteht
zwischen den Artisten des Mittelalters und den Jesuiten auf der einen und
den Philosophen der Gegenwart auf der andern Seite ein großer Unterschied.
Während unsere gegenwärtigen philosophischen Facultäten in sich gegliederte
Gruppen enthalten, welche die verschiedenen Wissenschaften vertreten, so war
in den Artistenfäcultäten des Mittelalters, so ist in der Artistenfakultät der
Jesuiten eigentlich nur eine Wissenschaft, nämlich die Philosophie im engeren
Sinne, Gegenstand des Vortrags. Was sonst noch gelehrt wird, ist eine zu¬
fällige Zugabe. Philologie wird auf den Universitäten der Jesuiten nicht



") "In Paris, welches die Hauptschule für Theologie und Philosophie, wie Bologna für
kanonisches und Civilrecht, waren seit Abälard neben der theologischen Kathedralschule eine
große Anzahl Artistcnschul.er entstanden, welche seit der zweiten Hälfte des 12., Jahrhunderts
durch den Kanzler von Notre-Dame die lioontia cwvsucU zu erbitten hatten. Durch die Bullen
von Innocenz III. von 1209 und 1213 erhielten diese Schulen gewisse corporative Rechte,
durch welche die Befugnisse des Kanzlers in Betreff der livöiUis, beschränkt wurden; von diesem
Datum an läßt sich die Universität als selbständige Corporation betrachten." Artikel: Universi¬
täten von Tholuk in Herzog, Encyklopädie für Theologie und Kirche. Bd. 16. S. 721.

mannichfaltigen schwierigen Fragen, die sich ihm aufdringen, eine befriedigende
Antwort zu geben, hatte sich eine Wissenschaft gebildet, Casuistik genannt,
welche dem angehenden Geistlichen die Befähigung geben sollte, in jedem ein¬
zelnen Falle, der ihm vorgetragen wurde, ein treffendes Urtheil zu fällen. Je
weniger aber diese Casuistik sich auf feste Grundsätze einer entwickelten christ¬
lichen Sittenlehre stützte, je mehr im Gegentheil diese sich in die Casuistik
auflöste, desto mehr mußte die letztere, unumstößlicher sittlicher Principien be¬
raubt, sich in eine Summe von Klugheitsregeln verwandeln, die oft genug
ein ernstes sittlich gereiftes Bewußtsein beleidigt haben. Es ist bekannt, wie
die Jesuiten als Beichtväter durch die laxe Behandlung sittlicher Fragen sich
allgemein einen sehr ungünstigen Ruf erworben haben.

Also in Dogmatik und Casuistik ging und geht die Theologie der Je¬
suiten auf. Alle die Wissenschaften, welche den Geist der Kritik wecken, das
Studium der heiligen Schrift, die eingehende Beschäftigung mit der Geschichte
der Kirche, wurden vernachlässigt. Der Geist positiver Kritik, der das Ent¬
stehen und Bestehen des Protestantismus bedingt hat und immer bedingen
wird, sollte nicht heraufbeschworen werden. Die Aneignung des überlieferten
Lehrshstems — das war die Aufgabe der mittelalterlichen Scholastik, das ist
die Aufgabe der jesuitischen Theologie geblieben. Aber wie verträgt sich mit
dieser beschränkenden Behandlung, welche die Jesuiten der Theologie zukom¬
men ließen, die Pflege der Philosophie auf jesuitischen Universitäten?
Eine jesuitische Universität, darin mittelalterlichen Vorbildern folgend,^) besteht
aus zwei Facultäten, der Facultät der Theologen und der Artisten. Diese
letztere entspricht unsrer gegenwärtigen philosophischen, die ja ebenso bunt aus
heterogenen Elementen zusammengefügt ist, wie jene. Aber doch besteht
zwischen den Artisten des Mittelalters und den Jesuiten auf der einen und
den Philosophen der Gegenwart auf der andern Seite ein großer Unterschied.
Während unsere gegenwärtigen philosophischen Facultäten in sich gegliederte
Gruppen enthalten, welche die verschiedenen Wissenschaften vertreten, so war
in den Artistenfäcultäten des Mittelalters, so ist in der Artistenfakultät der
Jesuiten eigentlich nur eine Wissenschaft, nämlich die Philosophie im engeren
Sinne, Gegenstand des Vortrags. Was sonst noch gelehrt wird, ist eine zu¬
fällige Zugabe. Philologie wird auf den Universitäten der Jesuiten nicht



") „In Paris, welches die Hauptschule für Theologie und Philosophie, wie Bologna für
kanonisches und Civilrecht, waren seit Abälard neben der theologischen Kathedralschule eine
große Anzahl Artistcnschul.er entstanden, welche seit der zweiten Hälfte des 12., Jahrhunderts
durch den Kanzler von Notre-Dame die lioontia cwvsucU zu erbitten hatten. Durch die Bullen
von Innocenz III. von 1209 und 1213 erhielten diese Schulen gewisse corporative Rechte,
durch welche die Befugnisse des Kanzlers in Betreff der livöiUis, beschränkt wurden; von diesem
Datum an läßt sich die Universität als selbständige Corporation betrachten." Artikel: Universi¬
täten von Tholuk in Herzog, Encyklopädie für Theologie und Kirche. Bd. 16. S. 721.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0251" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/127647"/>
          <p xml:id="ID_833" prev="#ID_832"> mannichfaltigen schwierigen Fragen, die sich ihm aufdringen, eine befriedigende<lb/>
Antwort zu geben, hatte sich eine Wissenschaft gebildet, Casuistik genannt,<lb/>
welche dem angehenden Geistlichen die Befähigung geben sollte, in jedem ein¬<lb/>
zelnen Falle, der ihm vorgetragen wurde, ein treffendes Urtheil zu fällen. Je<lb/>
weniger aber diese Casuistik sich auf feste Grundsätze einer entwickelten christ¬<lb/>
lichen Sittenlehre stützte, je mehr im Gegentheil diese sich in die Casuistik<lb/>
auflöste, desto mehr mußte die letztere, unumstößlicher sittlicher Principien be¬<lb/>
raubt, sich in eine Summe von Klugheitsregeln verwandeln, die oft genug<lb/>
ein ernstes sittlich gereiftes Bewußtsein beleidigt haben. Es ist bekannt, wie<lb/>
die Jesuiten als Beichtväter durch die laxe Behandlung sittlicher Fragen sich<lb/>
allgemein einen sehr ungünstigen Ruf erworben haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_834" next="#ID_835"> Also in Dogmatik und Casuistik ging und geht die Theologie der Je¬<lb/>
suiten auf. Alle die Wissenschaften, welche den Geist der Kritik wecken, das<lb/>
Studium der heiligen Schrift, die eingehende Beschäftigung mit der Geschichte<lb/>
der Kirche, wurden vernachlässigt. Der Geist positiver Kritik, der das Ent¬<lb/>
stehen und Bestehen des Protestantismus bedingt hat und immer bedingen<lb/>
wird, sollte nicht heraufbeschworen werden. Die Aneignung des überlieferten<lb/>
Lehrshstems &#x2014; das war die Aufgabe der mittelalterlichen Scholastik, das ist<lb/>
die Aufgabe der jesuitischen Theologie geblieben. Aber wie verträgt sich mit<lb/>
dieser beschränkenden Behandlung, welche die Jesuiten der Theologie zukom¬<lb/>
men ließen, die Pflege der Philosophie auf jesuitischen Universitäten?<lb/>
Eine jesuitische Universität, darin mittelalterlichen Vorbildern folgend,^) besteht<lb/>
aus zwei Facultäten, der Facultät der Theologen und der Artisten. Diese<lb/>
letztere entspricht unsrer gegenwärtigen philosophischen, die ja ebenso bunt aus<lb/>
heterogenen Elementen zusammengefügt ist, wie jene. Aber doch besteht<lb/>
zwischen den Artisten des Mittelalters und den Jesuiten auf der einen und<lb/>
den Philosophen der Gegenwart auf der andern Seite ein großer Unterschied.<lb/>
Während unsere gegenwärtigen philosophischen Facultäten in sich gegliederte<lb/>
Gruppen enthalten, welche die verschiedenen Wissenschaften vertreten, so war<lb/>
in den Artistenfäcultäten des Mittelalters, so ist in der Artistenfakultät der<lb/>
Jesuiten eigentlich nur eine Wissenschaft, nämlich die Philosophie im engeren<lb/>
Sinne, Gegenstand des Vortrags. Was sonst noch gelehrt wird, ist eine zu¬<lb/>
fällige Zugabe. Philologie wird auf den Universitäten der Jesuiten nicht</p><lb/>
          <note xml:id="FID_17" place="foot"> ") &#x201E;In Paris, welches die Hauptschule für Theologie und Philosophie, wie Bologna für<lb/>
kanonisches und Civilrecht, waren seit Abälard neben der theologischen Kathedralschule eine<lb/>
große Anzahl Artistcnschul.er entstanden, welche seit der zweiten Hälfte des 12., Jahrhunderts<lb/>
durch den Kanzler von Notre-Dame die lioontia cwvsucU zu erbitten hatten. Durch die Bullen<lb/>
von Innocenz III. von 1209 und 1213 erhielten diese Schulen gewisse corporative Rechte,<lb/>
durch welche die Befugnisse des Kanzlers in Betreff der livöiUis, beschränkt wurden; von diesem<lb/>
Datum an läßt sich die Universität als selbständige Corporation betrachten." Artikel: Universi¬<lb/>
täten von Tholuk in Herzog, Encyklopädie für Theologie und Kirche. Bd. 16. S. 721.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0251] mannichfaltigen schwierigen Fragen, die sich ihm aufdringen, eine befriedigende Antwort zu geben, hatte sich eine Wissenschaft gebildet, Casuistik genannt, welche dem angehenden Geistlichen die Befähigung geben sollte, in jedem ein¬ zelnen Falle, der ihm vorgetragen wurde, ein treffendes Urtheil zu fällen. Je weniger aber diese Casuistik sich auf feste Grundsätze einer entwickelten christ¬ lichen Sittenlehre stützte, je mehr im Gegentheil diese sich in die Casuistik auflöste, desto mehr mußte die letztere, unumstößlicher sittlicher Principien be¬ raubt, sich in eine Summe von Klugheitsregeln verwandeln, die oft genug ein ernstes sittlich gereiftes Bewußtsein beleidigt haben. Es ist bekannt, wie die Jesuiten als Beichtväter durch die laxe Behandlung sittlicher Fragen sich allgemein einen sehr ungünstigen Ruf erworben haben. Also in Dogmatik und Casuistik ging und geht die Theologie der Je¬ suiten auf. Alle die Wissenschaften, welche den Geist der Kritik wecken, das Studium der heiligen Schrift, die eingehende Beschäftigung mit der Geschichte der Kirche, wurden vernachlässigt. Der Geist positiver Kritik, der das Ent¬ stehen und Bestehen des Protestantismus bedingt hat und immer bedingen wird, sollte nicht heraufbeschworen werden. Die Aneignung des überlieferten Lehrshstems — das war die Aufgabe der mittelalterlichen Scholastik, das ist die Aufgabe der jesuitischen Theologie geblieben. Aber wie verträgt sich mit dieser beschränkenden Behandlung, welche die Jesuiten der Theologie zukom¬ men ließen, die Pflege der Philosophie auf jesuitischen Universitäten? Eine jesuitische Universität, darin mittelalterlichen Vorbildern folgend,^) besteht aus zwei Facultäten, der Facultät der Theologen und der Artisten. Diese letztere entspricht unsrer gegenwärtigen philosophischen, die ja ebenso bunt aus heterogenen Elementen zusammengefügt ist, wie jene. Aber doch besteht zwischen den Artisten des Mittelalters und den Jesuiten auf der einen und den Philosophen der Gegenwart auf der andern Seite ein großer Unterschied. Während unsere gegenwärtigen philosophischen Facultäten in sich gegliederte Gruppen enthalten, welche die verschiedenen Wissenschaften vertreten, so war in den Artistenfäcultäten des Mittelalters, so ist in der Artistenfakultät der Jesuiten eigentlich nur eine Wissenschaft, nämlich die Philosophie im engeren Sinne, Gegenstand des Vortrags. Was sonst noch gelehrt wird, ist eine zu¬ fällige Zugabe. Philologie wird auf den Universitäten der Jesuiten nicht ") „In Paris, welches die Hauptschule für Theologie und Philosophie, wie Bologna für kanonisches und Civilrecht, waren seit Abälard neben der theologischen Kathedralschule eine große Anzahl Artistcnschul.er entstanden, welche seit der zweiten Hälfte des 12., Jahrhunderts durch den Kanzler von Notre-Dame die lioontia cwvsucU zu erbitten hatten. Durch die Bullen von Innocenz III. von 1209 und 1213 erhielten diese Schulen gewisse corporative Rechte, durch welche die Befugnisse des Kanzlers in Betreff der livöiUis, beschränkt wurden; von diesem Datum an läßt sich die Universität als selbständige Corporation betrachten." Artikel: Universi¬ täten von Tholuk in Herzog, Encyklopädie für Theologie und Kirche. Bd. 16. S. 721.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/251
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/251>, abgerufen am 22.07.2024.