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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band.

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historische Objectivität ist da nirgends mehr zu rechnen gewesen. Während
deutsche "Forscher und Historiker" zu dem Resultate gelangt sind, daß jeder
der furchtbaren Schläge, mit welchen die Thorheit oder Herrschsucht der Habs¬
burger einen der begabtesten slavischen Stämme gestraft hat, die Schlacht am
Weißen Berge nicht ausgenommen, ein Segen für die Deutschböhmen gewesen
sei, hat der naivere Aberglaube der tschechischen Forscher schon jetzt festgestellt,
daß die Tschechen direct von den alten Griechen abstammen, daß sie die Re¬
formation, das Pulver, die Buchdruckerkunst erfunden und Amerika entdeckt haben.

Ehe Anton Springer seine Geschichte Oestreichs auf die letzten zwanzig
Jahre mit erstreckt, ist eine völlig unparteiische und völlig sachkundige Dar¬
stellung kaum zu erhoffen.*)

Auch die sehr schätzbare Schrift Richard Andree's ist in ihren poli¬
tischen Anschauungen keineswegs objectiv und parteilos. Aber sie will auch
nicht die jüngste Geschichte Böhmens darstellen, sondern Land und Leute
so gründlich und unparteiisch schildern, als ein deutsches Auge nach jahre¬
langen Studien und Wanderungen in Böhmen nur immer vermag. Und
diese Aufgabe hat Richard Andree in dankenswerthester Weise gelöst. Bald
schildert er uns in der liebenswürdigen Weise geistvoller, scharf beobachtender
Touristen die Eigenart des Landes, des Volkes, deutscher, tschechischer und
gemischter Bezirke, bald wieder -- und vornehmlich in allen zwischen den
beiden Völkern bestrittenen Fragen (Sprachgebiet, Schule, Industrie, Grund¬
besitz ze.) läßt er die nüchterne Logik zuverlässiger Zahlen reden.

Die einzelnen Abhandlungen des Andree'schen Buches sind ohne äußere
Verbindung, jede für sich abgeschlossen, nebeneinander gestellt. Aber um so
erkennbarer ist ihre innere Verbindung, ihre gemeinsame Tendenz. Die ge¬
merkte Absicht verstimmt indessen hier keineswegs. Es ist im Gegentheil ein
großer Vorzug des Buches, der ihm namentlich auch unter den Mittelständen
Böhmens und ganz Oestreichs und Deutschlands weite Verbreitung sichert,
daß der Verfasser von der ersten Seite an klar ausspricht, was. die gemein¬
same Absicht seiner verschiedenartigsten Betrachtungen sei, und daß er diese
Absicht auch an dem scheinbar gelehrtesten und trockensten Stoff in einer durch¬
aus fesselnden und gemeinverständlichen Weise durchführt. So sind wir denn
sicher, daß wir in Begleitung Richard Andree's auf seinen "Streifzügen durch
Deutsch-Böhmen", auf einer "Stellwagenfahrt von Prag nach Beraun", unter
den "nationalen Kleinstädtern" und bei Betrachtung der "Herrschaften des
Adelst oder "tschechischer Dörfer und Bauern", sehr viel mehr erfahren und



Nachdem diese Zeilen geschrieben warm, geht uns aus dem Verlage von F. A, Brock¬
haus ein Werk zu, "die Geschichte Oestreichs vom Vertrage von Mllügos an von Rogge", das
bestimmt ist, diese fühlbare Lücke zu ergänzen. Wir werden in einer besonderen längeren Be¬
sprechung darauf zurückkommen

historische Objectivität ist da nirgends mehr zu rechnen gewesen. Während
deutsche „Forscher und Historiker" zu dem Resultate gelangt sind, daß jeder
der furchtbaren Schläge, mit welchen die Thorheit oder Herrschsucht der Habs¬
burger einen der begabtesten slavischen Stämme gestraft hat, die Schlacht am
Weißen Berge nicht ausgenommen, ein Segen für die Deutschböhmen gewesen
sei, hat der naivere Aberglaube der tschechischen Forscher schon jetzt festgestellt,
daß die Tschechen direct von den alten Griechen abstammen, daß sie die Re¬
formation, das Pulver, die Buchdruckerkunst erfunden und Amerika entdeckt haben.

Ehe Anton Springer seine Geschichte Oestreichs auf die letzten zwanzig
Jahre mit erstreckt, ist eine völlig unparteiische und völlig sachkundige Dar¬
stellung kaum zu erhoffen.*)

Auch die sehr schätzbare Schrift Richard Andree's ist in ihren poli¬
tischen Anschauungen keineswegs objectiv und parteilos. Aber sie will auch
nicht die jüngste Geschichte Böhmens darstellen, sondern Land und Leute
so gründlich und unparteiisch schildern, als ein deutsches Auge nach jahre¬
langen Studien und Wanderungen in Böhmen nur immer vermag. Und
diese Aufgabe hat Richard Andree in dankenswerthester Weise gelöst. Bald
schildert er uns in der liebenswürdigen Weise geistvoller, scharf beobachtender
Touristen die Eigenart des Landes, des Volkes, deutscher, tschechischer und
gemischter Bezirke, bald wieder — und vornehmlich in allen zwischen den
beiden Völkern bestrittenen Fragen (Sprachgebiet, Schule, Industrie, Grund¬
besitz ze.) läßt er die nüchterne Logik zuverlässiger Zahlen reden.

Die einzelnen Abhandlungen des Andree'schen Buches sind ohne äußere
Verbindung, jede für sich abgeschlossen, nebeneinander gestellt. Aber um so
erkennbarer ist ihre innere Verbindung, ihre gemeinsame Tendenz. Die ge¬
merkte Absicht verstimmt indessen hier keineswegs. Es ist im Gegentheil ein
großer Vorzug des Buches, der ihm namentlich auch unter den Mittelständen
Böhmens und ganz Oestreichs und Deutschlands weite Verbreitung sichert,
daß der Verfasser von der ersten Seite an klar ausspricht, was. die gemein¬
same Absicht seiner verschiedenartigsten Betrachtungen sei, und daß er diese
Absicht auch an dem scheinbar gelehrtesten und trockensten Stoff in einer durch¬
aus fesselnden und gemeinverständlichen Weise durchführt. So sind wir denn
sicher, daß wir in Begleitung Richard Andree's auf seinen „Streifzügen durch
Deutsch-Böhmen", auf einer „Stellwagenfahrt von Prag nach Beraun", unter
den „nationalen Kleinstädtern" und bei Betrachtung der „Herrschaften des
Adelst oder „tschechischer Dörfer und Bauern", sehr viel mehr erfahren und



Nachdem diese Zeilen geschrieben warm, geht uns aus dem Verlage von F. A, Brock¬
haus ein Werk zu, „die Geschichte Oestreichs vom Vertrage von Mllügos an von Rogge", das
bestimmt ist, diese fühlbare Lücke zu ergänzen. Wir werden in einer besonderen längeren Be¬
sprechung darauf zurückkommen
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[0242] historische Objectivität ist da nirgends mehr zu rechnen gewesen. Während deutsche „Forscher und Historiker" zu dem Resultate gelangt sind, daß jeder der furchtbaren Schläge, mit welchen die Thorheit oder Herrschsucht der Habs¬ burger einen der begabtesten slavischen Stämme gestraft hat, die Schlacht am Weißen Berge nicht ausgenommen, ein Segen für die Deutschböhmen gewesen sei, hat der naivere Aberglaube der tschechischen Forscher schon jetzt festgestellt, daß die Tschechen direct von den alten Griechen abstammen, daß sie die Re¬ formation, das Pulver, die Buchdruckerkunst erfunden und Amerika entdeckt haben. Ehe Anton Springer seine Geschichte Oestreichs auf die letzten zwanzig Jahre mit erstreckt, ist eine völlig unparteiische und völlig sachkundige Dar¬ stellung kaum zu erhoffen.*) Auch die sehr schätzbare Schrift Richard Andree's ist in ihren poli¬ tischen Anschauungen keineswegs objectiv und parteilos. Aber sie will auch nicht die jüngste Geschichte Böhmens darstellen, sondern Land und Leute so gründlich und unparteiisch schildern, als ein deutsches Auge nach jahre¬ langen Studien und Wanderungen in Böhmen nur immer vermag. Und diese Aufgabe hat Richard Andree in dankenswerthester Weise gelöst. Bald schildert er uns in der liebenswürdigen Weise geistvoller, scharf beobachtender Touristen die Eigenart des Landes, des Volkes, deutscher, tschechischer und gemischter Bezirke, bald wieder — und vornehmlich in allen zwischen den beiden Völkern bestrittenen Fragen (Sprachgebiet, Schule, Industrie, Grund¬ besitz ze.) läßt er die nüchterne Logik zuverlässiger Zahlen reden. Die einzelnen Abhandlungen des Andree'schen Buches sind ohne äußere Verbindung, jede für sich abgeschlossen, nebeneinander gestellt. Aber um so erkennbarer ist ihre innere Verbindung, ihre gemeinsame Tendenz. Die ge¬ merkte Absicht verstimmt indessen hier keineswegs. Es ist im Gegentheil ein großer Vorzug des Buches, der ihm namentlich auch unter den Mittelständen Böhmens und ganz Oestreichs und Deutschlands weite Verbreitung sichert, daß der Verfasser von der ersten Seite an klar ausspricht, was. die gemein¬ same Absicht seiner verschiedenartigsten Betrachtungen sei, und daß er diese Absicht auch an dem scheinbar gelehrtesten und trockensten Stoff in einer durch¬ aus fesselnden und gemeinverständlichen Weise durchführt. So sind wir denn sicher, daß wir in Begleitung Richard Andree's auf seinen „Streifzügen durch Deutsch-Böhmen", auf einer „Stellwagenfahrt von Prag nach Beraun", unter den „nationalen Kleinstädtern" und bei Betrachtung der „Herrschaften des Adelst oder „tschechischer Dörfer und Bauern", sehr viel mehr erfahren und Nachdem diese Zeilen geschrieben warm, geht uns aus dem Verlage von F. A, Brock¬ haus ein Werk zu, „die Geschichte Oestreichs vom Vertrage von Mllügos an von Rogge", das bestimmt ist, diese fühlbare Lücke zu ergänzen. Wir werden in einer besonderen längeren Be¬ sprechung darauf zurückkommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127395/242>, abgerufen am 22.12.2024.