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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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stets neue Massen Materials ausführenden Vortrage nicht, im Gegentheil
vermehrt sich seine Unbehülflichkeit, je mehr Stoff anbringt. Dieser Uebel¬
stand liegt nun allerdings in der Eigenthümlichkeit des Gegenstandes der ju¬
ristischen Borlesungen, allein er kann ausgeglichen werden durch sogenannte
Praktische Vorlesungen, aller Erfahrung nach die ersprießlichsten, wenn auch
für den Lehrer mühsamsten Collegien, welchen aber auf unseren Universitäten
noch viel zu wenig Würdigung widerfährt. Wahrlich kann man, und zwar
gerade von den fleißigsten unserer die Universität verlassenden Rechtscandida-
ten dasselbe sagen, was einst Lichtenberg von einem sehr gelehrten "Pro¬
fessor" gesagt hat, nämlich! "Der Mann hatte soviel gelernt, daß er zu gar
nichts mehr zu brauchen war!" Hiergegen findet sich nun die alleinige, aber
auch ausreichende Abhülfe durch ein tüchtig gehandhabtes collegium praeti-
vum; hier müssen zuerst leichtere Nechtsfälle vorgelegt und dem Candidaten
gezeigt werden, wie man denn überhaupt einen praktischen Fall angreift; ist
dies in freier Rede und Gegenrede geschehen, so ist zu schwereren Fällen zu
schreiten, welche schriftlich zu bearbeiten sind, natürlich möglichst erschöpfend,
vielseitig und gründlich. Wer jemals Praktica in diesem Sinne geleitet hat,
wird dem Schreiber dieses beistimmen, wenn er behauptet, daß viele Rechts¬
studenten erst durch die Fertigkeit in solcher Anwendung der juristischen
Regeln Liebe zur Jurisprudenz bekommen. Unschätzbar ist hierbei ver neben¬
her laufende Vortheil des Einflusses der Persönlichkeit des Lehrers, um so
unschätzbarer je bedeutender dieselbe ist.

Es gibt aber vornehmlich ein Stiefkind unter den juristischen Disciplinen der
deutschen Universitäten; das heißt: Die Staatswissenschaften. Wenn wir,
im Hinblick auf dieselben, zunächst die praktische Frage stellen: was hat denn ein
die Universität verlassender und in die Praxis übertretender Rechtscandidat
in der Regel gelernt? -- so wird das Ergebniß einer Prüfung seines Wissens
durchschnittlich dahin ausfallen! ernstlich hat er nur das römische Recht
studirt, kennt auch den "gemeinen deutschen Civilproceß", jenes, nach obigem
Herrn Verfasser (mit Recht) ganz unfindbare Wesen, und endlich hat er sich,
aber erst seit neuester Zeit, auch mit Handels- und Wechselrecht beschäftigt;
von Staats- und Völkerrecht aber, von Nationalökonomie und Finanzwissen-
schaft findet sich nur spärliches Wissen vor.

Die Ursachen dieser Erscheinung liegen nicht aus der Oberfläche; sie
liegen in der ganzen Geschichte der Universitäten, den politischen Verhält¬
nissen Deutschlands bis vor noch wenigen Jahren, und endlich in dem Umstände,
daß die Staatswissenschaften verhältnißmäßig noch junge Disciplinen sind,
deren Aufschwung und Bedeutung für Deutschland sich eigentlich erst seit
gegenwärtigem Jahrhundert datirt.

Es wird nämlich zunächst nicht geleugnet werden können, daß unsere


stets neue Massen Materials ausführenden Vortrage nicht, im Gegentheil
vermehrt sich seine Unbehülflichkeit, je mehr Stoff anbringt. Dieser Uebel¬
stand liegt nun allerdings in der Eigenthümlichkeit des Gegenstandes der ju¬
ristischen Borlesungen, allein er kann ausgeglichen werden durch sogenannte
Praktische Vorlesungen, aller Erfahrung nach die ersprießlichsten, wenn auch
für den Lehrer mühsamsten Collegien, welchen aber auf unseren Universitäten
noch viel zu wenig Würdigung widerfährt. Wahrlich kann man, und zwar
gerade von den fleißigsten unserer die Universität verlassenden Rechtscandida-
ten dasselbe sagen, was einst Lichtenberg von einem sehr gelehrten „Pro¬
fessor" gesagt hat, nämlich! „Der Mann hatte soviel gelernt, daß er zu gar
nichts mehr zu brauchen war!" Hiergegen findet sich nun die alleinige, aber
auch ausreichende Abhülfe durch ein tüchtig gehandhabtes collegium praeti-
vum; hier müssen zuerst leichtere Nechtsfälle vorgelegt und dem Candidaten
gezeigt werden, wie man denn überhaupt einen praktischen Fall angreift; ist
dies in freier Rede und Gegenrede geschehen, so ist zu schwereren Fällen zu
schreiten, welche schriftlich zu bearbeiten sind, natürlich möglichst erschöpfend,
vielseitig und gründlich. Wer jemals Praktica in diesem Sinne geleitet hat,
wird dem Schreiber dieses beistimmen, wenn er behauptet, daß viele Rechts¬
studenten erst durch die Fertigkeit in solcher Anwendung der juristischen
Regeln Liebe zur Jurisprudenz bekommen. Unschätzbar ist hierbei ver neben¬
her laufende Vortheil des Einflusses der Persönlichkeit des Lehrers, um so
unschätzbarer je bedeutender dieselbe ist.

Es gibt aber vornehmlich ein Stiefkind unter den juristischen Disciplinen der
deutschen Universitäten; das heißt: Die Staatswissenschaften. Wenn wir,
im Hinblick auf dieselben, zunächst die praktische Frage stellen: was hat denn ein
die Universität verlassender und in die Praxis übertretender Rechtscandidat
in der Regel gelernt? — so wird das Ergebniß einer Prüfung seines Wissens
durchschnittlich dahin ausfallen! ernstlich hat er nur das römische Recht
studirt, kennt auch den „gemeinen deutschen Civilproceß", jenes, nach obigem
Herrn Verfasser (mit Recht) ganz unfindbare Wesen, und endlich hat er sich,
aber erst seit neuester Zeit, auch mit Handels- und Wechselrecht beschäftigt;
von Staats- und Völkerrecht aber, von Nationalökonomie und Finanzwissen-
schaft findet sich nur spärliches Wissen vor.

Die Ursachen dieser Erscheinung liegen nicht aus der Oberfläche; sie
liegen in der ganzen Geschichte der Universitäten, den politischen Verhält¬
nissen Deutschlands bis vor noch wenigen Jahren, und endlich in dem Umstände,
daß die Staatswissenschaften verhältnißmäßig noch junge Disciplinen sind,
deren Aufschwung und Bedeutung für Deutschland sich eigentlich erst seit
gegenwärtigem Jahrhundert datirt.

Es wird nämlich zunächst nicht geleugnet werden können, daß unsere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/475>, abgerufen am 05.02.2025.