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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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denken über die hier besprochenen Fragen anzuregen. Wir glauben den Ver¬
fasser jener Aufsätze richtig verstanden zu haben, wenn wir als deren letzten
Kern den Satz finden: Das materielle Recht in den deutschen Staaten ist
hinter der nationalen Entwickelung des deutschen Volkes weit zurückgeblieben,
es leidet an particulärer Zersplitterung und dem Mangel nationalen Charak¬
ters , die Rechtslehre aber ist noch weit mehr hinter den Anforderungen der
Zeit zurückgeblieben. Beide Vorwürfe sind wohl begründet, nur ist der erste
verzeihlicher als der gegen die Rechtslehre, mit deren letzterem Zustande wir
uns auch besonders beschäftigen wollen.

Daß die Gestaltung des materiellen Rechts in einem Staate oder Staaten¬
gebiete (der frühere deutsche Bund) nicht ihre eigenen Wege gehen kann, son¬
dern auf das maßgebendste durch die jeweilige politische Gestaltung des be¬
treffenden Territoriums beeinflußt ist. dürfte außer aller Bestreitung liegen,
da die Quelle alles Rechts eben die Lebensverhältnisse und Anschauungen
eines Volkes sind. Solange also der Particularismus in Deutschland blühte,
welcher seine Lebensquelle aus der Rivalität zwischen Oestreich und Preußen
schöpfte, war eine Entwickelung des materiellen Rechts in particulären Geiste
wohl kaum anders möglich. Nur auf einem politisch geeinigten, einheitlichen,
nationalen Boden kann ein nationales Recht erwachsen. Wenn wir bedenken,
was Alles seit dem Bestehen des norddeutschen Bundes und dem kurzen des
deutschen Reiches bereits für die Entwickelung eines nationalen Rechts in
Deutschland geleistet worden, so ist dieß wahrhaft staunenswerth, während die
betreffenden Leistungen der früheren Sljcihrigen Bundestagszeit geradezu Spott-
lied wenig sind. Konnte es aber auch anders sein in einem Staatenbunde,
der nicht einmal eine Bundesgesetzgebung hatte? Der deutschen Bundesver¬
sammlung stand ja keinerlei gesetzgebende Gewalt über die (souveränen) Bun¬
desstaaten zu, daher auch die Bundesbeschlüsse auf die Unterthanen der letzteren
keinerlei rechtliche Wirkung ausübten; nach Art. S6 der Wiener Schlußacte
standen außerdem die einzelnen landständischen Verfassungen der landesherrlichen
Publication etwaiger Bundesbeschlüsse unter Umständen als feste Mauer gegen¬
über. Kein Wunder war daher, wenn allmählig jedes Land und Ländchen
sein eigenes Privatrecht erhielt, eigentlich lauter modificirte Römische Rechte,
denn um dasselbe weiterzubilden oder zu beseitigen, wo dasselbe deutschrechtlichen
Anschauungen widerstrebte, machte sich oft der Mangel der Grundbedingung
hierzu geltend: Des kräftigen, einheitlichen Nationalbewußtseins. Kann denn
überhaupt der Particularismus jemals etwas Großes leisten? Sehen wir nun
nicht deutlich genug, an der bei den Praktikern bereits auf das übelste ver¬
rufenen bayrischen Prozeß-Ordnung vom 1. Juli 1870, daß selbst ein Gebiet,
wie das von Bayern, noch zu klein ist, um auf dem weiten Felde der Gesetz¬
gebung wahrhaft Ersprießliches zu leisten? Es scheint, daß es der Gesammt-


denken über die hier besprochenen Fragen anzuregen. Wir glauben den Ver¬
fasser jener Aufsätze richtig verstanden zu haben, wenn wir als deren letzten
Kern den Satz finden: Das materielle Recht in den deutschen Staaten ist
hinter der nationalen Entwickelung des deutschen Volkes weit zurückgeblieben,
es leidet an particulärer Zersplitterung und dem Mangel nationalen Charak¬
ters , die Rechtslehre aber ist noch weit mehr hinter den Anforderungen der
Zeit zurückgeblieben. Beide Vorwürfe sind wohl begründet, nur ist der erste
verzeihlicher als der gegen die Rechtslehre, mit deren letzterem Zustande wir
uns auch besonders beschäftigen wollen.

Daß die Gestaltung des materiellen Rechts in einem Staate oder Staaten¬
gebiete (der frühere deutsche Bund) nicht ihre eigenen Wege gehen kann, son¬
dern auf das maßgebendste durch die jeweilige politische Gestaltung des be¬
treffenden Territoriums beeinflußt ist. dürfte außer aller Bestreitung liegen,
da die Quelle alles Rechts eben die Lebensverhältnisse und Anschauungen
eines Volkes sind. Solange also der Particularismus in Deutschland blühte,
welcher seine Lebensquelle aus der Rivalität zwischen Oestreich und Preußen
schöpfte, war eine Entwickelung des materiellen Rechts in particulären Geiste
wohl kaum anders möglich. Nur auf einem politisch geeinigten, einheitlichen,
nationalen Boden kann ein nationales Recht erwachsen. Wenn wir bedenken,
was Alles seit dem Bestehen des norddeutschen Bundes und dem kurzen des
deutschen Reiches bereits für die Entwickelung eines nationalen Rechts in
Deutschland geleistet worden, so ist dieß wahrhaft staunenswerth, während die
betreffenden Leistungen der früheren Sljcihrigen Bundestagszeit geradezu Spott-
lied wenig sind. Konnte es aber auch anders sein in einem Staatenbunde,
der nicht einmal eine Bundesgesetzgebung hatte? Der deutschen Bundesver¬
sammlung stand ja keinerlei gesetzgebende Gewalt über die (souveränen) Bun¬
desstaaten zu, daher auch die Bundesbeschlüsse auf die Unterthanen der letzteren
keinerlei rechtliche Wirkung ausübten; nach Art. S6 der Wiener Schlußacte
standen außerdem die einzelnen landständischen Verfassungen der landesherrlichen
Publication etwaiger Bundesbeschlüsse unter Umständen als feste Mauer gegen¬
über. Kein Wunder war daher, wenn allmählig jedes Land und Ländchen
sein eigenes Privatrecht erhielt, eigentlich lauter modificirte Römische Rechte,
denn um dasselbe weiterzubilden oder zu beseitigen, wo dasselbe deutschrechtlichen
Anschauungen widerstrebte, machte sich oft der Mangel der Grundbedingung
hierzu geltend: Des kräftigen, einheitlichen Nationalbewußtseins. Kann denn
überhaupt der Particularismus jemals etwas Großes leisten? Sehen wir nun
nicht deutlich genug, an der bei den Praktikern bereits auf das übelste ver¬
rufenen bayrischen Prozeß-Ordnung vom 1. Juli 1870, daß selbst ein Gebiet,
wie das von Bayern, noch zu klein ist, um auf dem weiten Felde der Gesetz¬
gebung wahrhaft Ersprießliches zu leisten? Es scheint, daß es der Gesammt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/471>, abgerufen am 05.02.2025.