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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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sind vollständig unterrichtet. Es fehlt nur noch, daß man ihnen einen besse¬
ren Platz anweist, und daß man ihnen die stenographischen Berichte schneller
und besser zugänglich macht. Im Uebrigen ist nicht zu leugnen, daß sie
manchmal jenen Nebendingen mehr Platz einräumen, als den Haupt¬
sachen. Aber so will es das Publicum, so will es der Reichstag. Lacht
dieser nicht bei Windthorst's sogenannten "Witzen?" Lauscht er nicht andächtig
den Plattitüden Bebel's? In England würden beide vor lauter Privat-
Conversationen kaum zu Worte kommen."

"Das mag sein", antwortet Ameher, "aber gerade deshalb muß man
einschreiten. Der Reichstag muß selbst für einen unparteiischen und voll¬
ständigen Bericht sorgen."

"Den haben wir ja", erwidert Bemeyer, "das ist das officielle stenogra¬
phische Protocoll; aber das liest kein Mensch, weil es zu langweilig ist und
zu spät kommt."

"So meine ich es auch nicht", replicirt Ameyer, "ich meine einen Bericht
der noch am Tage der Sitzung fertig gestellt wird und den dann alle Zei¬
tungen zugleich bringen. So ist es in Frankreich."

"Ich weiß es", sagt Bemeyer, "aber ein solcher Bericht würde an die
auswärtigen Blätter zu spät kommen. Berlin aber spielt auf dem Gebiete
der Journalistik eine weit bescheidenere Rolle in Deutschland, als Paris in
Frankreich. Und ich freue mich, daß dem so ist. Ich sage: Gott sei Dank,
daß wir keine büreaukratische^Centralisation haben, daß wir auch auf diesem
Gebiete der Selbstverwaltung und Selbsthülfe huldigen. Da mögen jetzt wol
noch Mängel sein. Warum denn nicht? Unser parlamentarisches Leben ist
noch jung. Laßt den Baum und den Wald nur organisch wachsen, statt ihn
umzuhauen und ihn mechanisch durch eine gemalte Landschaft ihl Vvwmlcin
zu ersetzen."

So schwirrten damals die Stimmungen und die Meinungen durcheinan¬
der. Es kam zu keinem positiven Ergebniß. Man lehnte den Antrag Bam-
berger's ab, welcher auf eine der französischen ähnliche Einrichtung hinaus¬
lief. Man gab die Krankheit zu, aber man fürchtete, die Arznei sei gefähr¬
licher, als die Krankheit; man zog es vor, bei der letzteren zu belassen, weil
man kein besseres Mittel wußte.

Allein, wie überhaupt kein guter Gedanke ganz in's Leere verpufft, son¬
dern irgendwo seine Wirkungen äußert, so auch hier. Die Mängel der jetzigen
blos journalistischen Reichstagsberichte waren von dem Abg. Bamberger zu
wahr und zu drastisch geschildert worden, als daß das Ganze ohne allen Ein¬
druck hätte bleiben können. Verschiedene Verleger und Schriftsteller wandten
sich an Bamberger, um mit ihm die Frage zu berathen, ob nicht auf anderem
Wege zu helfen sei, ob man nicht etwa in Buchform dem deutschen Volke


sind vollständig unterrichtet. Es fehlt nur noch, daß man ihnen einen besse¬
ren Platz anweist, und daß man ihnen die stenographischen Berichte schneller
und besser zugänglich macht. Im Uebrigen ist nicht zu leugnen, daß sie
manchmal jenen Nebendingen mehr Platz einräumen, als den Haupt¬
sachen. Aber so will es das Publicum, so will es der Reichstag. Lacht
dieser nicht bei Windthorst's sogenannten „Witzen?" Lauscht er nicht andächtig
den Plattitüden Bebel's? In England würden beide vor lauter Privat-
Conversationen kaum zu Worte kommen."

„Das mag sein", antwortet Ameher, „aber gerade deshalb muß man
einschreiten. Der Reichstag muß selbst für einen unparteiischen und voll¬
ständigen Bericht sorgen."

„Den haben wir ja", erwidert Bemeyer, „das ist das officielle stenogra¬
phische Protocoll; aber das liest kein Mensch, weil es zu langweilig ist und
zu spät kommt."

„So meine ich es auch nicht", replicirt Ameyer, „ich meine einen Bericht
der noch am Tage der Sitzung fertig gestellt wird und den dann alle Zei¬
tungen zugleich bringen. So ist es in Frankreich."

„Ich weiß es", sagt Bemeyer, „aber ein solcher Bericht würde an die
auswärtigen Blätter zu spät kommen. Berlin aber spielt auf dem Gebiete
der Journalistik eine weit bescheidenere Rolle in Deutschland, als Paris in
Frankreich. Und ich freue mich, daß dem so ist. Ich sage: Gott sei Dank,
daß wir keine büreaukratische^Centralisation haben, daß wir auch auf diesem
Gebiete der Selbstverwaltung und Selbsthülfe huldigen. Da mögen jetzt wol
noch Mängel sein. Warum denn nicht? Unser parlamentarisches Leben ist
noch jung. Laßt den Baum und den Wald nur organisch wachsen, statt ihn
umzuhauen und ihn mechanisch durch eine gemalte Landschaft ihl Vvwmlcin
zu ersetzen."

So schwirrten damals die Stimmungen und die Meinungen durcheinan¬
der. Es kam zu keinem positiven Ergebniß. Man lehnte den Antrag Bam-
berger's ab, welcher auf eine der französischen ähnliche Einrichtung hinaus¬
lief. Man gab die Krankheit zu, aber man fürchtete, die Arznei sei gefähr¬
licher, als die Krankheit; man zog es vor, bei der letzteren zu belassen, weil
man kein besseres Mittel wußte.

Allein, wie überhaupt kein guter Gedanke ganz in's Leere verpufft, son¬
dern irgendwo seine Wirkungen äußert, so auch hier. Die Mängel der jetzigen
blos journalistischen Reichstagsberichte waren von dem Abg. Bamberger zu
wahr und zu drastisch geschildert worden, als daß das Ganze ohne allen Ein¬
druck hätte bleiben können. Verschiedene Verleger und Schriftsteller wandten
sich an Bamberger, um mit ihm die Frage zu berathen, ob nicht auf anderem
Wege zu helfen sei, ob man nicht etwa in Buchform dem deutschen Volke


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[0466] sind vollständig unterrichtet. Es fehlt nur noch, daß man ihnen einen besse¬ ren Platz anweist, und daß man ihnen die stenographischen Berichte schneller und besser zugänglich macht. Im Uebrigen ist nicht zu leugnen, daß sie manchmal jenen Nebendingen mehr Platz einräumen, als den Haupt¬ sachen. Aber so will es das Publicum, so will es der Reichstag. Lacht dieser nicht bei Windthorst's sogenannten „Witzen?" Lauscht er nicht andächtig den Plattitüden Bebel's? In England würden beide vor lauter Privat- Conversationen kaum zu Worte kommen." „Das mag sein", antwortet Ameher, „aber gerade deshalb muß man einschreiten. Der Reichstag muß selbst für einen unparteiischen und voll¬ ständigen Bericht sorgen." „Den haben wir ja", erwidert Bemeyer, „das ist das officielle stenogra¬ phische Protocoll; aber das liest kein Mensch, weil es zu langweilig ist und zu spät kommt." „So meine ich es auch nicht", replicirt Ameyer, „ich meine einen Bericht der noch am Tage der Sitzung fertig gestellt wird und den dann alle Zei¬ tungen zugleich bringen. So ist es in Frankreich." „Ich weiß es", sagt Bemeyer, „aber ein solcher Bericht würde an die auswärtigen Blätter zu spät kommen. Berlin aber spielt auf dem Gebiete der Journalistik eine weit bescheidenere Rolle in Deutschland, als Paris in Frankreich. Und ich freue mich, daß dem so ist. Ich sage: Gott sei Dank, daß wir keine büreaukratische^Centralisation haben, daß wir auch auf diesem Gebiete der Selbstverwaltung und Selbsthülfe huldigen. Da mögen jetzt wol noch Mängel sein. Warum denn nicht? Unser parlamentarisches Leben ist noch jung. Laßt den Baum und den Wald nur organisch wachsen, statt ihn umzuhauen und ihn mechanisch durch eine gemalte Landschaft ihl Vvwmlcin zu ersetzen." So schwirrten damals die Stimmungen und die Meinungen durcheinan¬ der. Es kam zu keinem positiven Ergebniß. Man lehnte den Antrag Bam- berger's ab, welcher auf eine der französischen ähnliche Einrichtung hinaus¬ lief. Man gab die Krankheit zu, aber man fürchtete, die Arznei sei gefähr¬ licher, als die Krankheit; man zog es vor, bei der letzteren zu belassen, weil man kein besseres Mittel wußte. Allein, wie überhaupt kein guter Gedanke ganz in's Leere verpufft, son¬ dern irgendwo seine Wirkungen äußert, so auch hier. Die Mängel der jetzigen blos journalistischen Reichstagsberichte waren von dem Abg. Bamberger zu wahr und zu drastisch geschildert worden, als daß das Ganze ohne allen Ein¬ druck hätte bleiben können. Verschiedene Verleger und Schriftsteller wandten sich an Bamberger, um mit ihm die Frage zu berathen, ob nicht auf anderem Wege zu helfen sei, ob man nicht etwa in Buchform dem deutschen Volke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/466>, abgerufen am 05.02.2025.