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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Antwort. "Sie finden zwar zwei Häuser weiter einen Stall; aber ich rathe
Ihnen nicht, Ihren Wagen mit dem deutschen Kutscher hinzuschicken, -- denn
Sie würden ihn nie wieder sehen." Wir zogen deshalb das Fuhrwerk in
eine Ecke der "seconde cour", bedeckten die Pferde mit Tüchern und gaben
ihnen einen Sack Hafer. Um vier Uhr rieth mir der Kellner -- dessen Ge¬
fühle sich zwischen der Sympathie für mich als Mitglied des Vereins des
rothen Kreuzes (denn das Hotel war während der Belagerung in ein Laza¬
rett) verwandelt worden) und der Sorge für seine eigene Sicherheit, welche
durch die Aufnahme von Preußen gefährdet wurde, theilten -- die Stadt
noch bei Tageslicht zu verlassen, da der Ausgang aus der Stadt weit ge¬
fährlicher sei, als der Eintritt. -- "Wenn sich Ihnen irgend eine Schwierig¬
keit darbietet", das war sein letzter Rath, "so zeigen Sie nur ihren englischen
Paß vor -- das wird Ihnen helfen; aber wenn die "Canaille" Ihren
Kutscher erfaßt, dann kann ihn nichts mehr vor ihrer Wuth retten; sagen
Sie ihm deswegen, er solle keinesfalls sprechen, sonst wäre es um ihn
geschehen."

Wir passirten zurück dieselben Straßen; doch grade als wir schon durch
die Barriere d' Italie fuhren, und ich mir im Stillen bereits zu unserem
Glück gratulirte, stellte sich ein frech aussehender Franzose vor meinen Kutscher,
drohte ihm mit der geballten Faust, kam dicht an den Wagen und rief:
"^lors! von-r cvlui cM ost Msse iimtin-- lltUait ML is Ilusskr sortir;
e'oft un l'russien, co n'sse pas un eodiei', tu-ut 1'g.rraeUsr 611 flöge!"

Vor vielen Jahren kam einmal in einer engen Dorfgasse ein toller Hund
auf mich zu und obgleich ich Geistesgegenwart genug hatte, über eine Hecke
zu springen und so seinem Biß zu entrinnen, so klapperten doch meine Zähne
und meine Kniee zitterten vor Schreck; aber dieser kritische Moment an
der "Barriere" von Paris war noch viel entsetzlicher, und die schrecklichen
Bilder, die ich mir von dem Schicksale des guten Deutschen in den Händen
dieser blutschnaubenden Räuber und Mörder machte, mußten meinem Gesicht
den Ausdruck vollkommener Erstarrung geben; ich konnte keine Silbe stammeln;
wirklich, ich fühlte wie meine Zunge Hülflos an den zusammengepreßten
Zähnen hing. Vox l'-iueilmL ImLÄt. Der Deutsche, der jedes Wort gehört
und wohl verstanden hatte, rettete uns durch sein "sang froid" und seinen
Muth. Er gab seinen Pferden die Peitsche und beachtete gar nicht das halbe
Dutzend Blousen, welche sich nach und nach um den Wagen angesammelt
hatten. Die Schurken folgten dem Wagen eine Strecke, dann dachten sie, sie
hätten sich geirrt und gingen zurück. Welcher Trost war es, als wir wieder
auf "preußisches" Gebiet gelangten und uns wieder unter freundlichen Gesichtern
fanden; doch ich muß sagen, daß ich jene denkwürdige Fahrt nach Paris und
die dabei ausgestandene Angst nie vergessen werde.


Grenzboten II. 1871. 123

Antwort. „Sie finden zwar zwei Häuser weiter einen Stall; aber ich rathe
Ihnen nicht, Ihren Wagen mit dem deutschen Kutscher hinzuschicken, — denn
Sie würden ihn nie wieder sehen." Wir zogen deshalb das Fuhrwerk in
eine Ecke der „seconde cour", bedeckten die Pferde mit Tüchern und gaben
ihnen einen Sack Hafer. Um vier Uhr rieth mir der Kellner — dessen Ge¬
fühle sich zwischen der Sympathie für mich als Mitglied des Vereins des
rothen Kreuzes (denn das Hotel war während der Belagerung in ein Laza¬
rett) verwandelt worden) und der Sorge für seine eigene Sicherheit, welche
durch die Aufnahme von Preußen gefährdet wurde, theilten — die Stadt
noch bei Tageslicht zu verlassen, da der Ausgang aus der Stadt weit ge¬
fährlicher sei, als der Eintritt. — „Wenn sich Ihnen irgend eine Schwierig¬
keit darbietet", das war sein letzter Rath, „so zeigen Sie nur ihren englischen
Paß vor — das wird Ihnen helfen; aber wenn die „Canaille" Ihren
Kutscher erfaßt, dann kann ihn nichts mehr vor ihrer Wuth retten; sagen
Sie ihm deswegen, er solle keinesfalls sprechen, sonst wäre es um ihn
geschehen."

Wir passirten zurück dieselben Straßen; doch grade als wir schon durch
die Barriere d' Italie fuhren, und ich mir im Stillen bereits zu unserem
Glück gratulirte, stellte sich ein frech aussehender Franzose vor meinen Kutscher,
drohte ihm mit der geballten Faust, kam dicht an den Wagen und rief:
„^lors! von-r cvlui cM ost Msse iimtin— lltUait ML is Ilusskr sortir;
e'oft un l'russien, co n'sse pas un eodiei', tu-ut 1'g.rraeUsr 611 flöge!"

Vor vielen Jahren kam einmal in einer engen Dorfgasse ein toller Hund
auf mich zu und obgleich ich Geistesgegenwart genug hatte, über eine Hecke
zu springen und so seinem Biß zu entrinnen, so klapperten doch meine Zähne
und meine Kniee zitterten vor Schreck; aber dieser kritische Moment an
der „Barriere" von Paris war noch viel entsetzlicher, und die schrecklichen
Bilder, die ich mir von dem Schicksale des guten Deutschen in den Händen
dieser blutschnaubenden Räuber und Mörder machte, mußten meinem Gesicht
den Ausdruck vollkommener Erstarrung geben; ich konnte keine Silbe stammeln;
wirklich, ich fühlte wie meine Zunge Hülflos an den zusammengepreßten
Zähnen hing. Vox l'-iueilmL ImLÄt. Der Deutsche, der jedes Wort gehört
und wohl verstanden hatte, rettete uns durch sein „sang froid" und seinen
Muth. Er gab seinen Pferden die Peitsche und beachtete gar nicht das halbe
Dutzend Blousen, welche sich nach und nach um den Wagen angesammelt
hatten. Die Schurken folgten dem Wagen eine Strecke, dann dachten sie, sie
hätten sich geirrt und gingen zurück. Welcher Trost war es, als wir wieder
auf „preußisches" Gebiet gelangten und uns wieder unter freundlichen Gesichtern
fanden; doch ich muß sagen, daß ich jene denkwürdige Fahrt nach Paris und
die dabei ausgestandene Angst nie vergessen werde.


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[0429] Antwort. „Sie finden zwar zwei Häuser weiter einen Stall; aber ich rathe Ihnen nicht, Ihren Wagen mit dem deutschen Kutscher hinzuschicken, — denn Sie würden ihn nie wieder sehen." Wir zogen deshalb das Fuhrwerk in eine Ecke der „seconde cour", bedeckten die Pferde mit Tüchern und gaben ihnen einen Sack Hafer. Um vier Uhr rieth mir der Kellner — dessen Ge¬ fühle sich zwischen der Sympathie für mich als Mitglied des Vereins des rothen Kreuzes (denn das Hotel war während der Belagerung in ein Laza¬ rett) verwandelt worden) und der Sorge für seine eigene Sicherheit, welche durch die Aufnahme von Preußen gefährdet wurde, theilten — die Stadt noch bei Tageslicht zu verlassen, da der Ausgang aus der Stadt weit ge¬ fährlicher sei, als der Eintritt. — „Wenn sich Ihnen irgend eine Schwierig¬ keit darbietet", das war sein letzter Rath, „so zeigen Sie nur ihren englischen Paß vor — das wird Ihnen helfen; aber wenn die „Canaille" Ihren Kutscher erfaßt, dann kann ihn nichts mehr vor ihrer Wuth retten; sagen Sie ihm deswegen, er solle keinesfalls sprechen, sonst wäre es um ihn geschehen." Wir passirten zurück dieselben Straßen; doch grade als wir schon durch die Barriere d' Italie fuhren, und ich mir im Stillen bereits zu unserem Glück gratulirte, stellte sich ein frech aussehender Franzose vor meinen Kutscher, drohte ihm mit der geballten Faust, kam dicht an den Wagen und rief: „^lors! von-r cvlui cM ost Msse iimtin— lltUait ML is Ilusskr sortir; e'oft un l'russien, co n'sse pas un eodiei', tu-ut 1'g.rraeUsr 611 flöge!" Vor vielen Jahren kam einmal in einer engen Dorfgasse ein toller Hund auf mich zu und obgleich ich Geistesgegenwart genug hatte, über eine Hecke zu springen und so seinem Biß zu entrinnen, so klapperten doch meine Zähne und meine Kniee zitterten vor Schreck; aber dieser kritische Moment an der „Barriere" von Paris war noch viel entsetzlicher, und die schrecklichen Bilder, die ich mir von dem Schicksale des guten Deutschen in den Händen dieser blutschnaubenden Räuber und Mörder machte, mußten meinem Gesicht den Ausdruck vollkommener Erstarrung geben; ich konnte keine Silbe stammeln; wirklich, ich fühlte wie meine Zunge Hülflos an den zusammengepreßten Zähnen hing. Vox l'-iueilmL ImLÄt. Der Deutsche, der jedes Wort gehört und wohl verstanden hatte, rettete uns durch sein „sang froid" und seinen Muth. Er gab seinen Pferden die Peitsche und beachtete gar nicht das halbe Dutzend Blousen, welche sich nach und nach um den Wagen angesammelt hatten. Die Schurken folgten dem Wagen eine Strecke, dann dachten sie, sie hätten sich geirrt und gingen zurück. Welcher Trost war es, als wir wieder auf „preußisches" Gebiet gelangten und uns wieder unter freundlichen Gesichtern fanden; doch ich muß sagen, daß ich jene denkwürdige Fahrt nach Paris und die dabei ausgestandene Angst nie vergessen werde. Grenzboten II. 1871. 123

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/429>, abgerufen am 05.02.2025.