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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Der Zugang nach Paris war jetzt wieder eröffnet. Mein Bruder hatte
mir geschrieben, daß er aus England angekommen sei, und mich nächstens
holen werde; anstatt ihm zu schreiben (denn Briefe nach der sechs engl. Meilen
entfernten Hauptstadt liefen vier Tage) beschloß ich, lieber selbst dorthin zu
reisen, und ihn zu bereden noch einige Tage länger da zu verweilen, wenn
sein Urlaub gestatte. Einer unserer Freiwilligen, welcher die Sorge für das
Stapeldepartement hatte, und welcher sich sehr darüber freute, daß er vor
seiner Rückkehr noch Paris zu sehen bekäme, bot mir an, mich hin und zurück
in einem offnen Wagen zu fahren. Ich machte ihm klar, wie gewagt eine
solche Reise wäre, wenn seine Nationalität erkannt würde, und er dann durch
die Wuthausbrüche des Pöbels gegen alle Deutschen in eine sehr gefährliche
Lage gerathen würde; aber er bat so sehr, mitzugehen, daß ich endlich ein¬
willigte, wenn auch nicht ohne eine schlimme Vorahnung.

Am nächsten Morgen machten wir uns, mit einer Karte von Paris,
meinem englischen Paß und einem französischen und deutschen "laisssr
xg,88er" von dem Präfecten in Corbeil versehen, nach Paris auf. Nach¬
dem wir Mllejuif hinter uns hatten, kamen wir an der preußischen Barriere
vorbei, und dann über die Anhöhe, die an dem Fort Bicetre bis zu der
Porte d'Jtalie herläuft, in das eigentliche Paris. Eine "Octroi"-
Wache fragte mich ob ich etwas Zollpflichtiges hätte; doch weder sie noch der
Pöbel an der "B arriere" schienen meinen preußischen Kutscher zu bemerken-
Nachdem wir in raschem Trab den Boulevard entlang nach dem Quai ge¬
fahren waren, fuhren wir das Ufer entlang, dann über den Pont Neuf und
den Place de l'Hotel de Mlle, und so lange in der Rue de Rivoli weiter,
bis wir nach dem bekannten "Cour" des Hotel Meurice kamen. Es war
grade Sonntag; alle Straßen waren voll; alle schienen in Uniform zu sein,
und Jeder war darauf bedacht, sich zu amüsiren; diesem Umstände hatte ich
auch gewiß nur zu verdanken, daß ich unangefochten herumgehen konnte.
Doch trotzdem fühlte ich mich nicht sehr behaglich; denn es^ waren nirgends
Wagen zu bekommen und ich merkte, daß wir nicht so unbemerkt herum¬
gingen, und obgleich ich vorgab eine Anzahl "Moth d' Ordre" zu kennen,
hätte ich jetzt um mein Leben nicht ein Wort herausbringen können.

Erst als ich unter dem Schutze von "Meurice" war, athmete ich wieder
frei auf. Ich fragte, ob mein Bruder da wäre. -- "Er ist vor einer Stunde
nach Calais abgereist", antwortete der Kellner. "Da er vergebens tagelang
auf eine Antwort von Ihnen gewartet hatte, dachte er, Sie wären nicht mehr
im Spital; und mittlerweile war sein Urlaub abgelaufen, und er mußte
zurückkehren." Dies machte mich sehr traurig, doch es half nichts. Wo sollte
ich mein Pferd einige Stunden hinstellen, denn ich hatte noch eine Fahrt von
sechszehn Meilen vor mir? -- "Wir haben keine Ställe im Hotel", war die


Der Zugang nach Paris war jetzt wieder eröffnet. Mein Bruder hatte
mir geschrieben, daß er aus England angekommen sei, und mich nächstens
holen werde; anstatt ihm zu schreiben (denn Briefe nach der sechs engl. Meilen
entfernten Hauptstadt liefen vier Tage) beschloß ich, lieber selbst dorthin zu
reisen, und ihn zu bereden noch einige Tage länger da zu verweilen, wenn
sein Urlaub gestatte. Einer unserer Freiwilligen, welcher die Sorge für das
Stapeldepartement hatte, und welcher sich sehr darüber freute, daß er vor
seiner Rückkehr noch Paris zu sehen bekäme, bot mir an, mich hin und zurück
in einem offnen Wagen zu fahren. Ich machte ihm klar, wie gewagt eine
solche Reise wäre, wenn seine Nationalität erkannt würde, und er dann durch
die Wuthausbrüche des Pöbels gegen alle Deutschen in eine sehr gefährliche
Lage gerathen würde; aber er bat so sehr, mitzugehen, daß ich endlich ein¬
willigte, wenn auch nicht ohne eine schlimme Vorahnung.

Am nächsten Morgen machten wir uns, mit einer Karte von Paris,
meinem englischen Paß und einem französischen und deutschen „laisssr
xg,88er" von dem Präfecten in Corbeil versehen, nach Paris auf. Nach¬
dem wir Mllejuif hinter uns hatten, kamen wir an der preußischen Barriere
vorbei, und dann über die Anhöhe, die an dem Fort Bicetre bis zu der
Porte d'Jtalie herläuft, in das eigentliche Paris. Eine „Octroi"-
Wache fragte mich ob ich etwas Zollpflichtiges hätte; doch weder sie noch der
Pöbel an der „B arriere" schienen meinen preußischen Kutscher zu bemerken-
Nachdem wir in raschem Trab den Boulevard entlang nach dem Quai ge¬
fahren waren, fuhren wir das Ufer entlang, dann über den Pont Neuf und
den Place de l'Hotel de Mlle, und so lange in der Rue de Rivoli weiter,
bis wir nach dem bekannten „Cour" des Hotel Meurice kamen. Es war
grade Sonntag; alle Straßen waren voll; alle schienen in Uniform zu sein,
und Jeder war darauf bedacht, sich zu amüsiren; diesem Umstände hatte ich
auch gewiß nur zu verdanken, daß ich unangefochten herumgehen konnte.
Doch trotzdem fühlte ich mich nicht sehr behaglich; denn es^ waren nirgends
Wagen zu bekommen und ich merkte, daß wir nicht so unbemerkt herum¬
gingen, und obgleich ich vorgab eine Anzahl „Moth d' Ordre" zu kennen,
hätte ich jetzt um mein Leben nicht ein Wort herausbringen können.

Erst als ich unter dem Schutze von „Meurice" war, athmete ich wieder
frei auf. Ich fragte, ob mein Bruder da wäre. — „Er ist vor einer Stunde
nach Calais abgereist", antwortete der Kellner. „Da er vergebens tagelang
auf eine Antwort von Ihnen gewartet hatte, dachte er, Sie wären nicht mehr
im Spital; und mittlerweile war sein Urlaub abgelaufen, und er mußte
zurückkehren." Dies machte mich sehr traurig, doch es half nichts. Wo sollte
ich mein Pferd einige Stunden hinstellen, denn ich hatte noch eine Fahrt von
sechszehn Meilen vor mir? — „Wir haben keine Ställe im Hotel", war die


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[0428] Der Zugang nach Paris war jetzt wieder eröffnet. Mein Bruder hatte mir geschrieben, daß er aus England angekommen sei, und mich nächstens holen werde; anstatt ihm zu schreiben (denn Briefe nach der sechs engl. Meilen entfernten Hauptstadt liefen vier Tage) beschloß ich, lieber selbst dorthin zu reisen, und ihn zu bereden noch einige Tage länger da zu verweilen, wenn sein Urlaub gestatte. Einer unserer Freiwilligen, welcher die Sorge für das Stapeldepartement hatte, und welcher sich sehr darüber freute, daß er vor seiner Rückkehr noch Paris zu sehen bekäme, bot mir an, mich hin und zurück in einem offnen Wagen zu fahren. Ich machte ihm klar, wie gewagt eine solche Reise wäre, wenn seine Nationalität erkannt würde, und er dann durch die Wuthausbrüche des Pöbels gegen alle Deutschen in eine sehr gefährliche Lage gerathen würde; aber er bat so sehr, mitzugehen, daß ich endlich ein¬ willigte, wenn auch nicht ohne eine schlimme Vorahnung. Am nächsten Morgen machten wir uns, mit einer Karte von Paris, meinem englischen Paß und einem französischen und deutschen „laisssr xg,88er" von dem Präfecten in Corbeil versehen, nach Paris auf. Nach¬ dem wir Mllejuif hinter uns hatten, kamen wir an der preußischen Barriere vorbei, und dann über die Anhöhe, die an dem Fort Bicetre bis zu der Porte d'Jtalie herläuft, in das eigentliche Paris. Eine „Octroi"- Wache fragte mich ob ich etwas Zollpflichtiges hätte; doch weder sie noch der Pöbel an der „B arriere" schienen meinen preußischen Kutscher zu bemerken- Nachdem wir in raschem Trab den Boulevard entlang nach dem Quai ge¬ fahren waren, fuhren wir das Ufer entlang, dann über den Pont Neuf und den Place de l'Hotel de Mlle, und so lange in der Rue de Rivoli weiter, bis wir nach dem bekannten „Cour" des Hotel Meurice kamen. Es war grade Sonntag; alle Straßen waren voll; alle schienen in Uniform zu sein, und Jeder war darauf bedacht, sich zu amüsiren; diesem Umstände hatte ich auch gewiß nur zu verdanken, daß ich unangefochten herumgehen konnte. Doch trotzdem fühlte ich mich nicht sehr behaglich; denn es^ waren nirgends Wagen zu bekommen und ich merkte, daß wir nicht so unbemerkt herum¬ gingen, und obgleich ich vorgab eine Anzahl „Moth d' Ordre" zu kennen, hätte ich jetzt um mein Leben nicht ein Wort herausbringen können. Erst als ich unter dem Schutze von „Meurice" war, athmete ich wieder frei auf. Ich fragte, ob mein Bruder da wäre. — „Er ist vor einer Stunde nach Calais abgereist", antwortete der Kellner. „Da er vergebens tagelang auf eine Antwort von Ihnen gewartet hatte, dachte er, Sie wären nicht mehr im Spital; und mittlerweile war sein Urlaub abgelaufen, und er mußte zurückkehren." Dies machte mich sehr traurig, doch es half nichts. Wo sollte ich mein Pferd einige Stunden hinstellen, denn ich hatte noch eine Fahrt von sechszehn Meilen vor mir? — „Wir haben keine Ställe im Hotel", war die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/428>, abgerufen am 05.02.2025.