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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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seiner Erörterungen und auf solche tiefer liegende Ursachen führt er die
Erscheinungen des politischen Lebens in England zurück, während Todd
sich begnügt die Symptome zu bezeichnen, ohne dem Grunde des Uebels nach¬
zuforschen. Zu Schlußfolgerungen für die politische Praxis regen beide
Autoren an, sowohl Todd, der ja für die Zustände seiner Heimath eine An¬
weisung hatte schreiben wollen, als Gneist, welcher nicht unterläßt scharf
und knapp auf Parallelen und Gegensätze französischer und deutscher Ver¬
fassungsgeschichte hinzuweisen und Nutzanwendungen dem Leser nahezulegen.

Möchten sich recht gründlich in der Behandlung unserer politischen
Gegenwart die Früchte der Gneist'schen Studien bewähren und die Theorie
unserer historischen Schule, die an Gneist einen ihrer Führer verehrt, unsere
Praxis vor Irrwegen, sei es nach links oder sei es nach rechts, behüten!




Daß in England die neuere Entwicklung schon eine gutes Stück von
dem alten parlamentarischen Bau zerstört und heruntergerissen und die
Grundlagen desselben, das Selfgovernment, nicht mehr unversehrt erhalten
hat, diesen Satz hat Gneist wiederholt schon ausgesprochen, und wie
wir so eben schon sagten, wir können nach unserer eigensten Ueber¬
zeugung diesem Urtheile nur beipflichten. Natürlich, der Lieblingsan¬
schauung großer Kreise unserer deutschen politischen Freunde widerspricht
w'e solche Meinung ebenso sehr, wie der Durchschnittsauffassung des Eng¬
länders. Dort wagen sich nur verschämt in der Quarterly Review einzelne
Stimmen so vernehmen zu lassen, der liberalen öffentlichen Meinung ist es
^ne Ketzerei. Und da es mehr und mehr dahin kommt, daß der eigentliche
Souverain Englands jene sogenannte öffentliche Meinung ist. die sich in
kwer unwissenden und prinziplosen Tagespresse ausspricht, so ist heute nicht
abzusehen, welches der Ausgang der gegenwärtig herrschenden Tendenzen sein
^ird. Wir lieben nicht, politische Prophezeiungen kundzugeben und möchten
^e Hoffnung auf eine kräftige Reaction gegen die heutige Strömung doch
nicht aussichtslos nennen: nur das dürfen wir heute aussprechen, daß die
Entwicklung der letzten 40 Jahre in England in der That den Boden des
Parlamentarischen Baues schon verlassen hat: wir, die wir aus der Ver-
^ssungsgeschichte Englands zu lernen bestrebt sind, wir schauen mit Span¬
nung dem pathologischen Proceß zu, der auf der britischen Insel heute seinen
Verlauf nimmt.

Eine Beziehung, eine Erscheinungsform aus diesem Vorgange hat sich in
°wer kleiner Schrift Dr. Adolf Koller zu behandeln vorgesetzt.") Bekannt-



') A. Koller. Die Demokmtisirung des Wahlrechts in England und ihr Einfluß auf
parlamentarische Regierung. sTheilwcise separat-Abdrücke ans dem Archiv des Norddcut-
lchm Bundes.) Berlin, F. Kortkampf. 18K9.

seiner Erörterungen und auf solche tiefer liegende Ursachen führt er die
Erscheinungen des politischen Lebens in England zurück, während Todd
sich begnügt die Symptome zu bezeichnen, ohne dem Grunde des Uebels nach¬
zuforschen. Zu Schlußfolgerungen für die politische Praxis regen beide
Autoren an, sowohl Todd, der ja für die Zustände seiner Heimath eine An¬
weisung hatte schreiben wollen, als Gneist, welcher nicht unterläßt scharf
und knapp auf Parallelen und Gegensätze französischer und deutscher Ver¬
fassungsgeschichte hinzuweisen und Nutzanwendungen dem Leser nahezulegen.

Möchten sich recht gründlich in der Behandlung unserer politischen
Gegenwart die Früchte der Gneist'schen Studien bewähren und die Theorie
unserer historischen Schule, die an Gneist einen ihrer Führer verehrt, unsere
Praxis vor Irrwegen, sei es nach links oder sei es nach rechts, behüten!




Daß in England die neuere Entwicklung schon eine gutes Stück von
dem alten parlamentarischen Bau zerstört und heruntergerissen und die
Grundlagen desselben, das Selfgovernment, nicht mehr unversehrt erhalten
hat, diesen Satz hat Gneist wiederholt schon ausgesprochen, und wie
wir so eben schon sagten, wir können nach unserer eigensten Ueber¬
zeugung diesem Urtheile nur beipflichten. Natürlich, der Lieblingsan¬
schauung großer Kreise unserer deutschen politischen Freunde widerspricht
w'e solche Meinung ebenso sehr, wie der Durchschnittsauffassung des Eng¬
länders. Dort wagen sich nur verschämt in der Quarterly Review einzelne
Stimmen so vernehmen zu lassen, der liberalen öffentlichen Meinung ist es
^ne Ketzerei. Und da es mehr und mehr dahin kommt, daß der eigentliche
Souverain Englands jene sogenannte öffentliche Meinung ist. die sich in
kwer unwissenden und prinziplosen Tagespresse ausspricht, so ist heute nicht
abzusehen, welches der Ausgang der gegenwärtig herrschenden Tendenzen sein
^ird. Wir lieben nicht, politische Prophezeiungen kundzugeben und möchten
^e Hoffnung auf eine kräftige Reaction gegen die heutige Strömung doch
nicht aussichtslos nennen: nur das dürfen wir heute aussprechen, daß die
Entwicklung der letzten 40 Jahre in England in der That den Boden des
Parlamentarischen Baues schon verlassen hat: wir, die wir aus der Ver-
^ssungsgeschichte Englands zu lernen bestrebt sind, wir schauen mit Span¬
nung dem pathologischen Proceß zu, der auf der britischen Insel heute seinen
Verlauf nimmt.

Eine Beziehung, eine Erscheinungsform aus diesem Vorgange hat sich in
°wer kleiner Schrift Dr. Adolf Koller zu behandeln vorgesetzt.") Bekannt-



') A. Koller. Die Demokmtisirung des Wahlrechts in England und ihr Einfluß auf
parlamentarische Regierung. sTheilwcise separat-Abdrücke ans dem Archiv des Norddcut-
lchm Bundes.) Berlin, F. Kortkampf. 18K9.
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[0349] seiner Erörterungen und auf solche tiefer liegende Ursachen führt er die Erscheinungen des politischen Lebens in England zurück, während Todd sich begnügt die Symptome zu bezeichnen, ohne dem Grunde des Uebels nach¬ zuforschen. Zu Schlußfolgerungen für die politische Praxis regen beide Autoren an, sowohl Todd, der ja für die Zustände seiner Heimath eine An¬ weisung hatte schreiben wollen, als Gneist, welcher nicht unterläßt scharf und knapp auf Parallelen und Gegensätze französischer und deutscher Ver¬ fassungsgeschichte hinzuweisen und Nutzanwendungen dem Leser nahezulegen. Möchten sich recht gründlich in der Behandlung unserer politischen Gegenwart die Früchte der Gneist'schen Studien bewähren und die Theorie unserer historischen Schule, die an Gneist einen ihrer Führer verehrt, unsere Praxis vor Irrwegen, sei es nach links oder sei es nach rechts, behüten! Daß in England die neuere Entwicklung schon eine gutes Stück von dem alten parlamentarischen Bau zerstört und heruntergerissen und die Grundlagen desselben, das Selfgovernment, nicht mehr unversehrt erhalten hat, diesen Satz hat Gneist wiederholt schon ausgesprochen, und wie wir so eben schon sagten, wir können nach unserer eigensten Ueber¬ zeugung diesem Urtheile nur beipflichten. Natürlich, der Lieblingsan¬ schauung großer Kreise unserer deutschen politischen Freunde widerspricht w'e solche Meinung ebenso sehr, wie der Durchschnittsauffassung des Eng¬ länders. Dort wagen sich nur verschämt in der Quarterly Review einzelne Stimmen so vernehmen zu lassen, der liberalen öffentlichen Meinung ist es ^ne Ketzerei. Und da es mehr und mehr dahin kommt, daß der eigentliche Souverain Englands jene sogenannte öffentliche Meinung ist. die sich in kwer unwissenden und prinziplosen Tagespresse ausspricht, so ist heute nicht abzusehen, welches der Ausgang der gegenwärtig herrschenden Tendenzen sein ^ird. Wir lieben nicht, politische Prophezeiungen kundzugeben und möchten ^e Hoffnung auf eine kräftige Reaction gegen die heutige Strömung doch nicht aussichtslos nennen: nur das dürfen wir heute aussprechen, daß die Entwicklung der letzten 40 Jahre in England in der That den Boden des Parlamentarischen Baues schon verlassen hat: wir, die wir aus der Ver- ^ssungsgeschichte Englands zu lernen bestrebt sind, wir schauen mit Span¬ nung dem pathologischen Proceß zu, der auf der britischen Insel heute seinen Verlauf nimmt. Eine Beziehung, eine Erscheinungsform aus diesem Vorgange hat sich in °wer kleiner Schrift Dr. Adolf Koller zu behandeln vorgesetzt.") Bekannt- ') A. Koller. Die Demokmtisirung des Wahlrechts in England und ihr Einfluß auf parlamentarische Regierung. sTheilwcise separat-Abdrücke ans dem Archiv des Norddcut- lchm Bundes.) Berlin, F. Kortkampf. 18K9.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/349>, abgerufen am 05.02.2025.