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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Verfasser klar und übersichtlich zu schildern. Die königliche Prärogative, die
parlamantarischen Rechte, die Stellung des großen Geheimen Rathes: alles
das ist vortrefflich gruppirt und äußerst lichtvoll behandelt. Das Ministerium
oder das Cabinet als der zur Geschäftsführung bestellte Ausschuß der par¬
lamentarischen Majorität, den der König als solchen acceptirt und mit der
Führung der Staatsgeschäfte beauftragt, das ist der Mittelpunkt dieses ganzen
Treibens und auch der Concentrationspunkt, in dem die einzelnen Excurse
Todd's sich vereinigen und zum Systeme gestalten. Mit einer großen Fülle
von Details und Belegen ist das Ganze ausgestattet, verständlich aber knapp
überall das zur Beleuchtung der einzelnen Beispiele nothwendige Material
herangeschafft worden. Ein Handbuch des parlamentarischen Lebens, ein Nach¬
schlagebuch für jeden Politiker, für jeden Historiker und Publicisten ist uns
hier geboten, das wir nicht gerne entbehren möchten, nachdem wir einmal
seine Brauchbarkeit und seinen Nutzen erprobt.

Wir müssen sagen, für das richtige Verständniß desjenigen politischen
Zustandes, den die meisten Menschen auf dem Continente als den allgemein
wünschenswerten ansehen, ergänzen sich die beiden hier besprochenen Werke
in erfreulicher Weise. Das wollen wir nicht verschweigen, daß der Deutsche
doch noch etwas ganz Anderes geleistet, als der Amerikaner: wie lehrreich auch
immer diese Zeichnung des Thatbestandes in England sein mag, das wird
Niemand von Todd zu sagen sich gemüßigt finden, eine neue Epoche in den
politischen Ideen der Gegenwart sei durch ihn herbeigeführt worden. Nur
einen Zug merken wir doch auch bei ihm: nicht zu einer unbedingten Apo¬
logie, nicht zu einer lobpreisenden Empfehlung des heutigen Verfassungs¬
lebens in England gestaltet sich seine thatsächliche Skizze, nein auch Todd
vermag seine Bedenken gegen die modernsten Entwicklungen des Parla¬
mentarismus nicht zu unterdrücken; das Gefährliche, das Ungesunde so mancher
Neuerungen in England wird oft kurz und scharf aufgezeigt: die Störung
der überlieferten Verfassung, die eine ganz außergewöhnliche Zeit des Glückes
und der Blüthe ihrer Nation gebracht hatte, die Vernichtung des histo¬
rischen England, wie sie seit 1832 immer weitere und immer schnellere
Fortschritte macht, es sind für Todd nicht sympathische Erscheinungen.

Aber wenn so die beiden Beurtheiler der neuesten englischen Verfassungs¬
geschichte in gewisser Weise zu demselben oder zu ähnlichem Schlußurtheil ge¬
langen, wie unendlich tiefer ist Gneist's Kritik gegründet als die des Nord¬
amerikaners. Gneist's Abneigung gegen die neuere in England immer sieg¬
reicher und immer massiver auftretende Tendenz wurzelt in seiner Erkenntniß,
daß nun auch dort die staatsfeindlichen und unstaatlichen Forderungen
der Gesellschaft in den Staat selbst eindringen: gerade der Gegensatz, in
welchem er "Staat" und "Gesellschaft" sieht, ist der Angelpunkt aller


Verfasser klar und übersichtlich zu schildern. Die königliche Prärogative, die
parlamantarischen Rechte, die Stellung des großen Geheimen Rathes: alles
das ist vortrefflich gruppirt und äußerst lichtvoll behandelt. Das Ministerium
oder das Cabinet als der zur Geschäftsführung bestellte Ausschuß der par¬
lamentarischen Majorität, den der König als solchen acceptirt und mit der
Führung der Staatsgeschäfte beauftragt, das ist der Mittelpunkt dieses ganzen
Treibens und auch der Concentrationspunkt, in dem die einzelnen Excurse
Todd's sich vereinigen und zum Systeme gestalten. Mit einer großen Fülle
von Details und Belegen ist das Ganze ausgestattet, verständlich aber knapp
überall das zur Beleuchtung der einzelnen Beispiele nothwendige Material
herangeschafft worden. Ein Handbuch des parlamentarischen Lebens, ein Nach¬
schlagebuch für jeden Politiker, für jeden Historiker und Publicisten ist uns
hier geboten, das wir nicht gerne entbehren möchten, nachdem wir einmal
seine Brauchbarkeit und seinen Nutzen erprobt.

Wir müssen sagen, für das richtige Verständniß desjenigen politischen
Zustandes, den die meisten Menschen auf dem Continente als den allgemein
wünschenswerten ansehen, ergänzen sich die beiden hier besprochenen Werke
in erfreulicher Weise. Das wollen wir nicht verschweigen, daß der Deutsche
doch noch etwas ganz Anderes geleistet, als der Amerikaner: wie lehrreich auch
immer diese Zeichnung des Thatbestandes in England sein mag, das wird
Niemand von Todd zu sagen sich gemüßigt finden, eine neue Epoche in den
politischen Ideen der Gegenwart sei durch ihn herbeigeführt worden. Nur
einen Zug merken wir doch auch bei ihm: nicht zu einer unbedingten Apo¬
logie, nicht zu einer lobpreisenden Empfehlung des heutigen Verfassungs¬
lebens in England gestaltet sich seine thatsächliche Skizze, nein auch Todd
vermag seine Bedenken gegen die modernsten Entwicklungen des Parla¬
mentarismus nicht zu unterdrücken; das Gefährliche, das Ungesunde so mancher
Neuerungen in England wird oft kurz und scharf aufgezeigt: die Störung
der überlieferten Verfassung, die eine ganz außergewöhnliche Zeit des Glückes
und der Blüthe ihrer Nation gebracht hatte, die Vernichtung des histo¬
rischen England, wie sie seit 1832 immer weitere und immer schnellere
Fortschritte macht, es sind für Todd nicht sympathische Erscheinungen.

Aber wenn so die beiden Beurtheiler der neuesten englischen Verfassungs¬
geschichte in gewisser Weise zu demselben oder zu ähnlichem Schlußurtheil ge¬
langen, wie unendlich tiefer ist Gneist's Kritik gegründet als die des Nord¬
amerikaners. Gneist's Abneigung gegen die neuere in England immer sieg¬
reicher und immer massiver auftretende Tendenz wurzelt in seiner Erkenntniß,
daß nun auch dort die staatsfeindlichen und unstaatlichen Forderungen
der Gesellschaft in den Staat selbst eindringen: gerade der Gegensatz, in
welchem er „Staat" und „Gesellschaft" sieht, ist der Angelpunkt aller


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[0348] Verfasser klar und übersichtlich zu schildern. Die königliche Prärogative, die parlamantarischen Rechte, die Stellung des großen Geheimen Rathes: alles das ist vortrefflich gruppirt und äußerst lichtvoll behandelt. Das Ministerium oder das Cabinet als der zur Geschäftsführung bestellte Ausschuß der par¬ lamentarischen Majorität, den der König als solchen acceptirt und mit der Führung der Staatsgeschäfte beauftragt, das ist der Mittelpunkt dieses ganzen Treibens und auch der Concentrationspunkt, in dem die einzelnen Excurse Todd's sich vereinigen und zum Systeme gestalten. Mit einer großen Fülle von Details und Belegen ist das Ganze ausgestattet, verständlich aber knapp überall das zur Beleuchtung der einzelnen Beispiele nothwendige Material herangeschafft worden. Ein Handbuch des parlamentarischen Lebens, ein Nach¬ schlagebuch für jeden Politiker, für jeden Historiker und Publicisten ist uns hier geboten, das wir nicht gerne entbehren möchten, nachdem wir einmal seine Brauchbarkeit und seinen Nutzen erprobt. Wir müssen sagen, für das richtige Verständniß desjenigen politischen Zustandes, den die meisten Menschen auf dem Continente als den allgemein wünschenswerten ansehen, ergänzen sich die beiden hier besprochenen Werke in erfreulicher Weise. Das wollen wir nicht verschweigen, daß der Deutsche doch noch etwas ganz Anderes geleistet, als der Amerikaner: wie lehrreich auch immer diese Zeichnung des Thatbestandes in England sein mag, das wird Niemand von Todd zu sagen sich gemüßigt finden, eine neue Epoche in den politischen Ideen der Gegenwart sei durch ihn herbeigeführt worden. Nur einen Zug merken wir doch auch bei ihm: nicht zu einer unbedingten Apo¬ logie, nicht zu einer lobpreisenden Empfehlung des heutigen Verfassungs¬ lebens in England gestaltet sich seine thatsächliche Skizze, nein auch Todd vermag seine Bedenken gegen die modernsten Entwicklungen des Parla¬ mentarismus nicht zu unterdrücken; das Gefährliche, das Ungesunde so mancher Neuerungen in England wird oft kurz und scharf aufgezeigt: die Störung der überlieferten Verfassung, die eine ganz außergewöhnliche Zeit des Glückes und der Blüthe ihrer Nation gebracht hatte, die Vernichtung des histo¬ rischen England, wie sie seit 1832 immer weitere und immer schnellere Fortschritte macht, es sind für Todd nicht sympathische Erscheinungen. Aber wenn so die beiden Beurtheiler der neuesten englischen Verfassungs¬ geschichte in gewisser Weise zu demselben oder zu ähnlichem Schlußurtheil ge¬ langen, wie unendlich tiefer ist Gneist's Kritik gegründet als die des Nord¬ amerikaners. Gneist's Abneigung gegen die neuere in England immer sieg¬ reicher und immer massiver auftretende Tendenz wurzelt in seiner Erkenntniß, daß nun auch dort die staatsfeindlichen und unstaatlichen Forderungen der Gesellschaft in den Staat selbst eindringen: gerade der Gegensatz, in welchem er „Staat" und „Gesellschaft" sieht, ist der Angelpunkt aller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/348>, abgerufen am 06.02.2025.