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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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für die Cruditäten des Dichters den Menschen Bürger verantwortlich. "Der-
Geist dieser Gedichte ist kein gereifter, kein vollendeter Geist, dessen Producten
nur deßwegen die letzte Hand fehlt, weil sie -- ihm selbst fehlt".

Diese Seite an Bürger stellt den gefährlichen Abweg dar, zu dem Her¬
ders Theorien verleiten konnten, den Abweg zur rohen Natur, zur plebe¬
jischen Volksthümlichkeit. Es wäre ein Unglück gewesen, wenn Deutschlands
Entwickelung auf dieser Bahn weiter gegangen; ein gütiges Geschick hat uns
davor bewahrt.

Zu Anfang freilich riß Bürgers Romanzendichtung auch die Gebildeten
der Nation, denen in der Cultur des Geistes ursprüngliches Gefühl noch nicht
erstickt war, mit in ihren Triumphzug. Man jubelte der Befreiung der lange
unterdrückten Natur- und Gotteskraft in unserem Busen mit lautem Beifall
zu. Aber das konnte allmählich nicht unempfunden bleiben, daß das Ideal
mit dieser Art von Poesie nicht erreicht sei; man harrte noch des Dichters, in
dem Freiheit und Gesetz, Leben und Form zu schöner Harmonie sich eini¬
gen sollten. Natur und Individualität mußten in ihm unverkümmert und
ungebrochen sein; aber dieser Natur mußte als eine ursprüngliche Gabe zu¬
gleich inne wohnen festes Gefühl für Maß, Nundung und Grenze. Dann
hatte Herder erreicht, was er als das Höchste dunkel ahnte.

Bürger selbst wendete sich mit den Jahren von dem alles mit sich fort¬
reißenden, stürmischen, idivtistisehen Ton seiner Gedichte wieder ab und bildete
immer mehr einen Hang zu Ramler'scher Correctheit aus. Dies war nun
erst recht verfehlt. Und sein begeisterter Schüler K. W. v. Schlegel war be¬
fugt, sich fast überall "der alten Lesarten" gegen die pedantischen Correcturen
anzunehmen.

Und noch ein Mangel haftete an Bürger. Seine Sachen kosteten ihm
noch viel zu viel Schweiß, Arbeit und Mühe. Es ging ihm ähnlich wie
Lessing. Er gesteht es selbst, fast mit Lessings bekannten Worten aus dem
Schlußaufsatz der Hamburger Dramaturgie, daß er die lebendige Quelle nicht
in sich fühle, die unaufhaltsam von selbst strömt; er "muß jeden armseligen
Tropfen erst mit großer Anstrengung heraufpumpen."

Alle Gerechtigkeit erfüllte erst Goethe. Er war wirklich Herders Volks¬
sänger im gebildeten Jahrhundert.

Ihn hatte die Natur wundersam mit der ganzen Fülle von naturfrischer,
originaler Empfindung ausgestattet, die jener mit so lauter Stimme erheischt
hatte. Hier die Forderung, hier -- man möchte fast an prästabilirte Wechsel¬
beziehung glauben -- die Erfüllung, ganz und groß ohne die Verirrungen
Bürgers: hier fehr früh innige Verschmelzung von Freiheit und Gesetz, von
Bildung und Natur. (Schluß folgt.)




für die Cruditäten des Dichters den Menschen Bürger verantwortlich. „Der-
Geist dieser Gedichte ist kein gereifter, kein vollendeter Geist, dessen Producten
nur deßwegen die letzte Hand fehlt, weil sie — ihm selbst fehlt".

Diese Seite an Bürger stellt den gefährlichen Abweg dar, zu dem Her¬
ders Theorien verleiten konnten, den Abweg zur rohen Natur, zur plebe¬
jischen Volksthümlichkeit. Es wäre ein Unglück gewesen, wenn Deutschlands
Entwickelung auf dieser Bahn weiter gegangen; ein gütiges Geschick hat uns
davor bewahrt.

Zu Anfang freilich riß Bürgers Romanzendichtung auch die Gebildeten
der Nation, denen in der Cultur des Geistes ursprüngliches Gefühl noch nicht
erstickt war, mit in ihren Triumphzug. Man jubelte der Befreiung der lange
unterdrückten Natur- und Gotteskraft in unserem Busen mit lautem Beifall
zu. Aber das konnte allmählich nicht unempfunden bleiben, daß das Ideal
mit dieser Art von Poesie nicht erreicht sei; man harrte noch des Dichters, in
dem Freiheit und Gesetz, Leben und Form zu schöner Harmonie sich eini¬
gen sollten. Natur und Individualität mußten in ihm unverkümmert und
ungebrochen sein; aber dieser Natur mußte als eine ursprüngliche Gabe zu¬
gleich inne wohnen festes Gefühl für Maß, Nundung und Grenze. Dann
hatte Herder erreicht, was er als das Höchste dunkel ahnte.

Bürger selbst wendete sich mit den Jahren von dem alles mit sich fort¬
reißenden, stürmischen, idivtistisehen Ton seiner Gedichte wieder ab und bildete
immer mehr einen Hang zu Ramler'scher Correctheit aus. Dies war nun
erst recht verfehlt. Und sein begeisterter Schüler K. W. v. Schlegel war be¬
fugt, sich fast überall „der alten Lesarten" gegen die pedantischen Correcturen
anzunehmen.

Und noch ein Mangel haftete an Bürger. Seine Sachen kosteten ihm
noch viel zu viel Schweiß, Arbeit und Mühe. Es ging ihm ähnlich wie
Lessing. Er gesteht es selbst, fast mit Lessings bekannten Worten aus dem
Schlußaufsatz der Hamburger Dramaturgie, daß er die lebendige Quelle nicht
in sich fühle, die unaufhaltsam von selbst strömt; er „muß jeden armseligen
Tropfen erst mit großer Anstrengung heraufpumpen."

Alle Gerechtigkeit erfüllte erst Goethe. Er war wirklich Herders Volks¬
sänger im gebildeten Jahrhundert.

Ihn hatte die Natur wundersam mit der ganzen Fülle von naturfrischer,
originaler Empfindung ausgestattet, die jener mit so lauter Stimme erheischt
hatte. Hier die Forderung, hier — man möchte fast an prästabilirte Wechsel¬
beziehung glauben — die Erfüllung, ganz und groß ohne die Verirrungen
Bürgers: hier fehr früh innige Verschmelzung von Freiheit und Gesetz, von
Bildung und Natur. (Schluß folgt.)




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[0032] für die Cruditäten des Dichters den Menschen Bürger verantwortlich. „Der- Geist dieser Gedichte ist kein gereifter, kein vollendeter Geist, dessen Producten nur deßwegen die letzte Hand fehlt, weil sie — ihm selbst fehlt". Diese Seite an Bürger stellt den gefährlichen Abweg dar, zu dem Her¬ ders Theorien verleiten konnten, den Abweg zur rohen Natur, zur plebe¬ jischen Volksthümlichkeit. Es wäre ein Unglück gewesen, wenn Deutschlands Entwickelung auf dieser Bahn weiter gegangen; ein gütiges Geschick hat uns davor bewahrt. Zu Anfang freilich riß Bürgers Romanzendichtung auch die Gebildeten der Nation, denen in der Cultur des Geistes ursprüngliches Gefühl noch nicht erstickt war, mit in ihren Triumphzug. Man jubelte der Befreiung der lange unterdrückten Natur- und Gotteskraft in unserem Busen mit lautem Beifall zu. Aber das konnte allmählich nicht unempfunden bleiben, daß das Ideal mit dieser Art von Poesie nicht erreicht sei; man harrte noch des Dichters, in dem Freiheit und Gesetz, Leben und Form zu schöner Harmonie sich eini¬ gen sollten. Natur und Individualität mußten in ihm unverkümmert und ungebrochen sein; aber dieser Natur mußte als eine ursprüngliche Gabe zu¬ gleich inne wohnen festes Gefühl für Maß, Nundung und Grenze. Dann hatte Herder erreicht, was er als das Höchste dunkel ahnte. Bürger selbst wendete sich mit den Jahren von dem alles mit sich fort¬ reißenden, stürmischen, idivtistisehen Ton seiner Gedichte wieder ab und bildete immer mehr einen Hang zu Ramler'scher Correctheit aus. Dies war nun erst recht verfehlt. Und sein begeisterter Schüler K. W. v. Schlegel war be¬ fugt, sich fast überall „der alten Lesarten" gegen die pedantischen Correcturen anzunehmen. Und noch ein Mangel haftete an Bürger. Seine Sachen kosteten ihm noch viel zu viel Schweiß, Arbeit und Mühe. Es ging ihm ähnlich wie Lessing. Er gesteht es selbst, fast mit Lessings bekannten Worten aus dem Schlußaufsatz der Hamburger Dramaturgie, daß er die lebendige Quelle nicht in sich fühle, die unaufhaltsam von selbst strömt; er „muß jeden armseligen Tropfen erst mit großer Anstrengung heraufpumpen." Alle Gerechtigkeit erfüllte erst Goethe. Er war wirklich Herders Volks¬ sänger im gebildeten Jahrhundert. Ihn hatte die Natur wundersam mit der ganzen Fülle von naturfrischer, originaler Empfindung ausgestattet, die jener mit so lauter Stimme erheischt hatte. Hier die Forderung, hier — man möchte fast an prästabilirte Wechsel¬ beziehung glauben — die Erfüllung, ganz und groß ohne die Verirrungen Bürgers: hier fehr früh innige Verschmelzung von Freiheit und Gesetz, von Bildung und Natur. (Schluß folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/32>, abgerufen am 05.02.2025.