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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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auf die Klopstock'sche beziehen) mag hinlaufen, wohin sie will. Durch Po¬
pularität kann die Poesie das werden, wozu sie Gott geschaffen und in
die Seele seiner Auserwählten gelegt hat. Die Muse der Ballade 'und Ro¬
manze hat auch Ilias und Odyssee gesungen. Unsere Dichter müssen von den
Gipfeln ihrer wolkigen Hochgelahrtheit herabsteigen. Möchte doch ein deut¬
scher Perry aufstehen, die Ueberbleibsel unserer Volkslieder sammeln und
dabei die Geheimnisse der magischen Kunst der Volkspoesie mehr aufdecken als
bisher. Zur Nachahmung im Ganzen wären sie freilich nicht; aber für
den einsichtsvollen Dichter würden sie eine reiche Fundgrube sein."

Er selbst studirte 1772 mit dem Göttinger Bündler, dem mädchenhaft
weich fühlenden Schwaben Miller, dem späteren Dichter des Thränenromans
Siegwart, die Minnesänger; er glaubte auch in ihnen Natur- und Volkspoesie
vor sich zu haben.

Seine Vorliebe für die Volksklänge unter den Linden des Dorfs und
auf der Bleiche führte ihm eines Sommerabends 1773 beim Mondschein einige
Verse aus einem verschollenen deutschen Volksliede zu, das ein Bauermädchen
sang: es war die Anregung zur ersten deutschen "Romanze", die nach
Herder'scher Vorschrift gedichtet ward, zur Lenore. Die von Herder vermißte
Würde und Poesie kehrte in die bänkelsängerisch verstümmelte Dichtungsart
zurück. Bürger an Boje: "Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einigermaßen
entsprechen."

1774 erschien das Gedicht im Göttinger Musenalmanach; Goethe sagt,
daß es "mit Enthusiasmus von den Deutschen aufgenommen sei." Es ent¬
zückte den Bauer in der Schenke; und in den vornehmen schöngeputzten Ge¬
sellschaften im Hause Lilis trug es Goethe selbst vielfach vor. Auch hier
mochte man das Gedicht immer wieder hören. Es tönte neu und wunderbar,
wie aus einer andern Welt in die an Künstelei und gelehrte Anspielungen
und Einkleidungen gewöhnte Zeit hinein; so frische, ungekünstelte Bewegung,
so rührende ergreifende Klänge hatten die Klopstock'schen Oden nirgends.
Hier war wirklich mit dem Geist der Opitz und Gottsched radical gebrochen.

Es folgten "der wilde Jäger", das "Lied vom braven Mann", und
Anderes, was wir noch von Bürger in allen unsern Gedichtsammlungen ha¬
ben. Auch im Liede traf er den freien von Reflexionen nicht beschwerten
Volkston: "Mit Hörnerschall und Lustgesang, als ging es froh zur Jagd."
"O was in tausend Liebespracht, das Mädel, das ich meine, lacht."

Herder hatte der sinnlich und lebhaft empfindenden Brust den drückenden
Alp der Theorien abgenommen, und der Ton, der dieser Brust nun entquoll,
traf sofort allüberall in gleichgestimmte Seelen und regte sie zu ähnlichen
naturfrischen Gesängen an.


auf die Klopstock'sche beziehen) mag hinlaufen, wohin sie will. Durch Po¬
pularität kann die Poesie das werden, wozu sie Gott geschaffen und in
die Seele seiner Auserwählten gelegt hat. Die Muse der Ballade 'und Ro¬
manze hat auch Ilias und Odyssee gesungen. Unsere Dichter müssen von den
Gipfeln ihrer wolkigen Hochgelahrtheit herabsteigen. Möchte doch ein deut¬
scher Perry aufstehen, die Ueberbleibsel unserer Volkslieder sammeln und
dabei die Geheimnisse der magischen Kunst der Volkspoesie mehr aufdecken als
bisher. Zur Nachahmung im Ganzen wären sie freilich nicht; aber für
den einsichtsvollen Dichter würden sie eine reiche Fundgrube sein."

Er selbst studirte 1772 mit dem Göttinger Bündler, dem mädchenhaft
weich fühlenden Schwaben Miller, dem späteren Dichter des Thränenromans
Siegwart, die Minnesänger; er glaubte auch in ihnen Natur- und Volkspoesie
vor sich zu haben.

Seine Vorliebe für die Volksklänge unter den Linden des Dorfs und
auf der Bleiche führte ihm eines Sommerabends 1773 beim Mondschein einige
Verse aus einem verschollenen deutschen Volksliede zu, das ein Bauermädchen
sang: es war die Anregung zur ersten deutschen „Romanze", die nach
Herder'scher Vorschrift gedichtet ward, zur Lenore. Die von Herder vermißte
Würde und Poesie kehrte in die bänkelsängerisch verstümmelte Dichtungsart
zurück. Bürger an Boje: „Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einigermaßen
entsprechen."

1774 erschien das Gedicht im Göttinger Musenalmanach; Goethe sagt,
daß es „mit Enthusiasmus von den Deutschen aufgenommen sei." Es ent¬
zückte den Bauer in der Schenke; und in den vornehmen schöngeputzten Ge¬
sellschaften im Hause Lilis trug es Goethe selbst vielfach vor. Auch hier
mochte man das Gedicht immer wieder hören. Es tönte neu und wunderbar,
wie aus einer andern Welt in die an Künstelei und gelehrte Anspielungen
und Einkleidungen gewöhnte Zeit hinein; so frische, ungekünstelte Bewegung,
so rührende ergreifende Klänge hatten die Klopstock'schen Oden nirgends.
Hier war wirklich mit dem Geist der Opitz und Gottsched radical gebrochen.

Es folgten „der wilde Jäger", das „Lied vom braven Mann", und
Anderes, was wir noch von Bürger in allen unsern Gedichtsammlungen ha¬
ben. Auch im Liede traf er den freien von Reflexionen nicht beschwerten
Volkston: „Mit Hörnerschall und Lustgesang, als ging es froh zur Jagd."
„O was in tausend Liebespracht, das Mädel, das ich meine, lacht."

Herder hatte der sinnlich und lebhaft empfindenden Brust den drückenden
Alp der Theorien abgenommen, und der Ton, der dieser Brust nun entquoll,
traf sofort allüberall in gleichgestimmte Seelen und regte sie zu ähnlichen
naturfrischen Gesängen an.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/30>, abgerufen am 05.02.2025.