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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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trat. In letzterer Gegend wollte es mit der Sache nicht recht vorwärts, da
es hier schon zu licht in den Köpfen und Smiths Vergangenheit zu bekannt
war. Desto besser hatte inzwischen Rigdon, ein Mann von der wilden,
phantastischen Beredsamkeit der Hinterwaldsprediger, in Ohio gearbeitet, wo
damals "Erweckungen" an der Tagesordnung waren, und neue Secten wie
die Pilze aus dem noch jungfräulichen Boden wuchsen.

So beschloß Smith mit seinen Leuten nach Ohio zu ziehen und dort
sein Zion zu gründen. Der Ort war das Städtchen Kirtland, nicht weit
vom Erie-See, wohin er sich, angeblich in Folge einer Offenbarung, im Ja¬
nuar 1831 begab. Rasch hatte man sich dort eingerichtet, und wenn Nigdon
gemeint hatte, in der Gemeinde die erste Rolle zu spielen, so mußte er bald
gewahr werden, daß sein Genosse der Stärkere war. Smith allein empfing
echte Offenbarungen, die auch seinen leiblichen Bedürfnissen zu Gute kamen.
Rigdon besorgte das Enthusiasmiren und Fanatisiren mit Virtuosität. Smith,
verständiger und praktischer, zog das Regieren und Speculiren vor. Er war
der Organisator und der Geschäftsführer der Secte, die bald auf 2000 See¬
len angeschwollen war und durch ausgesendete Apostel in den verschiedensten
Gegenden des Westens von sich reden machte.

Ein anderer Geistlicher, der sich den Mormonen angeschlossen, Peter
Perley Pratt, schrieb Pamphlete zur Empfehlung und Vertheidigung des
Glaubens derselben, der damals noch nicht viel mehr enthielt, als daß Gott
in den "Heiligen vom jüngsten Tage" der Welt das verloren gegangene Prie-
sterthum wiedergeschenkt habe, daß das "Buch Mormons", welches Smith
gefunden, der Bibel gleich zu ackten sei, und daß der Secte in Zukunft die
Herrschaft über die Welt zufallen werde. Rigdons Predigten riefen in Kirt¬
land allerlei seltsame Erscheinungen hervor. In den öffentlichen Versamm¬
lungen fielen die Leute, Männlein und Weiblein, zuckend zu Boden und sahen
himmlische Gesichte. Wolken von Seligen. Aposteln und Märtyrer, den Herrn
Jesus und Gott Vater. Andere verkündeten predigend und singend von
Zäunen und Baumstümpfen den Anbruch des jüngsten Gerichts. Wieder
Andere "redeten in Zungen", d. h. sie stießen unarticulirte Töne aus, die sie
für die Sprache der Rothhäute ausgaben, zu deren Bekehrung sie aufbrechen
zu müssen glaubten. Noch Andern fielen vom Himmel Pergamentrollen auf
den Kopf, welche mit dem Siegel des Heilands gesiegelt waren, und deren
Inhalt sie nicht sobald abgeschrieben hatten, als sie unsichtbar wurden. Die¬
ser fromme Wahnsinn, bei dem vermuthlich auch ein wenig frommer Betrug
mit unterlief, galt als "Pfingstzeugniß" für die Wahrheit der neuen Lehre.
Zu gleicher Zeit wußten die Führer ihre Anhänger aber auch zur Arbeit an¬
zuhalten, und so gedieh die Secte, die nunmehr eine stramme Organisation
in Priester verschiedener Grade bekommen hatte und durch verhältnißmäßig


trat. In letzterer Gegend wollte es mit der Sache nicht recht vorwärts, da
es hier schon zu licht in den Köpfen und Smiths Vergangenheit zu bekannt
war. Desto besser hatte inzwischen Rigdon, ein Mann von der wilden,
phantastischen Beredsamkeit der Hinterwaldsprediger, in Ohio gearbeitet, wo
damals „Erweckungen" an der Tagesordnung waren, und neue Secten wie
die Pilze aus dem noch jungfräulichen Boden wuchsen.

So beschloß Smith mit seinen Leuten nach Ohio zu ziehen und dort
sein Zion zu gründen. Der Ort war das Städtchen Kirtland, nicht weit
vom Erie-See, wohin er sich, angeblich in Folge einer Offenbarung, im Ja¬
nuar 1831 begab. Rasch hatte man sich dort eingerichtet, und wenn Nigdon
gemeint hatte, in der Gemeinde die erste Rolle zu spielen, so mußte er bald
gewahr werden, daß sein Genosse der Stärkere war. Smith allein empfing
echte Offenbarungen, die auch seinen leiblichen Bedürfnissen zu Gute kamen.
Rigdon besorgte das Enthusiasmiren und Fanatisiren mit Virtuosität. Smith,
verständiger und praktischer, zog das Regieren und Speculiren vor. Er war
der Organisator und der Geschäftsführer der Secte, die bald auf 2000 See¬
len angeschwollen war und durch ausgesendete Apostel in den verschiedensten
Gegenden des Westens von sich reden machte.

Ein anderer Geistlicher, der sich den Mormonen angeschlossen, Peter
Perley Pratt, schrieb Pamphlete zur Empfehlung und Vertheidigung des
Glaubens derselben, der damals noch nicht viel mehr enthielt, als daß Gott
in den „Heiligen vom jüngsten Tage" der Welt das verloren gegangene Prie-
sterthum wiedergeschenkt habe, daß das „Buch Mormons", welches Smith
gefunden, der Bibel gleich zu ackten sei, und daß der Secte in Zukunft die
Herrschaft über die Welt zufallen werde. Rigdons Predigten riefen in Kirt¬
land allerlei seltsame Erscheinungen hervor. In den öffentlichen Versamm¬
lungen fielen die Leute, Männlein und Weiblein, zuckend zu Boden und sahen
himmlische Gesichte. Wolken von Seligen. Aposteln und Märtyrer, den Herrn
Jesus und Gott Vater. Andere verkündeten predigend und singend von
Zäunen und Baumstümpfen den Anbruch des jüngsten Gerichts. Wieder
Andere „redeten in Zungen", d. h. sie stießen unarticulirte Töne aus, die sie
für die Sprache der Rothhäute ausgaben, zu deren Bekehrung sie aufbrechen
zu müssen glaubten. Noch Andern fielen vom Himmel Pergamentrollen auf
den Kopf, welche mit dem Siegel des Heilands gesiegelt waren, und deren
Inhalt sie nicht sobald abgeschrieben hatten, als sie unsichtbar wurden. Die¬
ser fromme Wahnsinn, bei dem vermuthlich auch ein wenig frommer Betrug
mit unterlief, galt als „Pfingstzeugniß" für die Wahrheit der neuen Lehre.
Zu gleicher Zeit wußten die Führer ihre Anhänger aber auch zur Arbeit an¬
zuhalten, und so gedieh die Secte, die nunmehr eine stramme Organisation
in Priester verschiedener Grade bekommen hatte und durch verhältnißmäßig


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/291>, abgerufen am 06.02.2025.